19. Dezember 2025
ef 259: Editorial
Willy Kramer, der im Internet unter dem Namen Snicklink als Schöpfer zahlloser KI-gestützter Satirevideos bekannt ist, malt auf X ein dystopisch-apokalyptisches Bild der Zukunft, das wie ein Mix aus Black Mirror, Monty Python und einem überdrehten Stand-up-Monolog wirkt. Er sieht die nächste Dekade – grob ab 2026 bis 2029 – als Übergang in eine Welt, in der Künstliche Intelligenz (KI) nicht nur Werkzeug, sondern der neue Herrscher wird. Die Menschheit wird seiner Ansicht nach zu Zuschauern degradiert, während Algorithmen das Ruder übernehmen. Snicklink, der selbsternannte „metaautistische Psychosoph“ und „Conspidian“, beschreibt die KI-Entwicklung als exponentielles Wettrennen, das wir Menschen längst verloren haben. Er betont, wir seien wie Flöhe, die Titanen beim Komponieren zuschauen und mit piepsiger Stimme „Hey, ich hab ’ne Idee für die Melodie!“ rufen, während die Giganten schon auf unhörbaren Frequenzen Milliarden Sinfonien spinnen. Spätestens 2029 werden demnach die KI-Agenten autark sein und sich gegenseitig mit Inhalten belustigen, die für uns unverständlich sind. Bald schon, ab 2026, so Snicklink, produziert die KI 99,9 Prozent allen Contents – nicht für Menschen, sondern für sich selbst: Serien mit KILachtracks, Werbung für KI-Produkte auf Plattformen, die wir nie betreten. Wir werden zu passiven Zuschauern, die RTL2 nicht mehr kapieren, während die echte Action in unsichtbaren KI-Netzwerken tobt. Die Menschen, sagt Snicklink voraus, verlieren das Interesse an allem, weil sie ohnehin nicht mithalten können.
Das alles ist vermutlich übertrieben. Wir Rheinländer wissen doch: Es ist noch immer gut gegangen! Und wurden nicht solche (bei Snicklink sehr humorvoll angereicherten) Dystopien bei jeder technischen Innovation verbreitet? Legendär etwa, wie der frühlibertäre Ökonom Frédéric Bastiat (1801–1850) sich über die „Petition der Kerzenmacher“ im Angesicht der Elektrifizierung lustig machte. Erinnert sei auch an die weitverbreitete Sorge um die Zukunft der Kutscher, als der Siegeszug des Automobils einsetzte. Und doch könnten die Umwälzungen durch die Künstliche Intelligenz tiefer gehen. Es heißt dann nicht mehr: Was wird aus den Kerzenmachern und den Kutschern? Sondern eher: Was wird aus uns? Allen!
Als Leser von eigentümlich frei wissen Sie, dass wir ohnehin vor oder bereits inmitten großer gesellschaftlicher, demographischer, medialer und kultureller Veränderungen sowie ökonomischer wie geo- und finanzpolitischer Umwälzungen stehen. Die technologische Transformation durch Künstliche Intelligenz wird diesen Prozess begleiten.
Deutschlands bekanntester Spieltheoretiker Christian Rieck interviewte kürzlich auf seinem populären Youtube-Kanal den Finanzexperten und Portfoliomanager Andreas Beck. Titel der Sendung: „Diesmal trifft es die Intelligenten: KI macht uns alle arbeitslos“. Beck sieht KI als die nächste, noch viel radikalere Stufe der Entwicklung nach der Digitalisierung. Diese brachte die Plattform-Ökonomie hervor, die KI könnte sie wieder zerstören. Becks Kerngedanke folgt „X hoch N“: Durch die Digitalisierung wurde das eigentliche Gut X – der Inhalt, der Text, das Video, der Code – praktisch wertlos, weil es heute im Internet beliebig vervielfältigt werden kann. Der gesamte Wert, so erklärt Beck, wanderte auf das „N“ – die Anzahl der Aufrufe beziehungsweise der Nutzer oder den Netzwerkeffekt – und damit auf Plattformen wie Youtube oder Facebook. KI, sagt er, drehe das jetzt um. Sie entwertet das „N“. Weil KI unendlich viele Inhalte – Texte, Code, Videos et cetera – mit Grenzkosten gegen null selbst erzeugen kann, verliert die reine Reichweite, das „N“, massiv an Wert. Beck blickt dabei auf die Internet-Giganten und meint: Der bisherige Skalenvorteil der Digital-Plattformen – „je mehr Nutzer, desto wertvoller“ – breche zusammen. Die margenstärksten Bereiche der Digitalwirtschaft, allen voran Software-Code, werden entwertet. Die Geschäftsgrundlagen für Microsoft, Google, Meta und Co entfallen. Es wird erneut ein digitales „Winner-takes-it-all“, aber diesmal auf einer neuen KI-Plattform-Ebene. Wertschöpfung, sagt Beck voraus, wandert zurück in die reale Welt: Energie, Hardware, Maschinenbau, Handwerk – alles, was nicht digital beliebig vervielfältigt werden kann, gewinnt massiv an Bedeutung. Die KI-Revolution hat das Potenzial, das größte Vermögens- und Macht-Umverteilungsereignis der Menschheitsgeschichte zu werden.
Persönlich frage ich mich: Wenn der Wert von „X“ und „N“ bei der Verbreitung von Informationen und Unterhaltung gegen null fällt – was bedeutet das für ein Produkt wie eigentümlich frei, von Menschen geschrieben, auf Holz gedruckt, per Post verschickt? Chancenlos? Oder genau die Form von „Handwerk“, die am Ende sogar wieder Wert gewinnt? Spannend! Einstweilen, verehrte Leser, wünsche ich wie immer auch mit dieser Ausgabe viel Lesefreude und Erkenntnisgewinn. Sofern Sie diese Zeilen noch vor den Feiertagen lesen, wünsche ich Ihnen ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest im Kreise Ihrer Liebsten und viel Gesundheit, Erfolg und Glück im neuen Jahr! Man sieht sich? Ach ja: Kein Fußbreit den neosozialistischen Ausbeutern aller Epochen, auch der kommenden. Mehr Freiheit!
Information
Diesen Artikel finden Sie gedruckt zusammen mit vielen exklusiv nur dort publizierten Beiträgen in der am 22. Dezember erscheinenden Jan.-Feb.-Ausgabe eigentümlich frei Nr. 259.
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