06. Dezember 2025
Randnotizen: Lehren aus der europäischen Geschichte
Warum das Kapital im Alpenraum Station machte und dann weiterzog
Lange gehörte der Alpenraum zu den reichsten und interessantesten Regionen der Welt. Bayern, Tirol, Norditalien, die Schweiz, Liechtenstein: Bis in die jüngste Vergangenheit – stellenweise bis in die Gegenwart – war diese Gegend offenbar besonders attraktiv für den Vermögensaufbau.
Paradox ist das allemal: Die Alpen sind keine verwöhnende Landschaft. Das Leben ist rau und fördert – wie in vielen Bergregionen – Nüchternheit, Bodenständigkeit und Eigenständigkeit. Dazu kommt ein gesunder Freiheitstrieb. Der Preis dafür ist meist Armut: Abgeschiedenheit macht die Versorgung teuer. Der Alpenraum sticht jedoch heraus – wie Europa insgesamt.
Europa vereint zwei Gegensätze: Nähe und Absonderung. Dichte Netze von Flüssen, relativ kurze Wege zu Meeresküsten und die Notwendigkeit, über Pässe und Brücken zu gehen, erzeugten Knotenpunkte des Wohlstands. Aus der Nähe erwuchs Wettbewerb: Man schaut vom Berg ins Tal und vom Tal in das nächste Tal – und versucht, sich abzuheben.
Die ersten europäischen Zentren dieser Art lagen an den Küsten des Mittelmeers. Dort entstand die typisch europäische Idee, Wissen als Kapital zu begreifen: die Welt verstehen, Dinge besser machen, Fortschritt organisieren. Alte Zentren waren etwa Milet (im Gebiet der heutigen Türkei) oder – als Wissenshauptstadt – Alexandria in Nordafrika. Das Mittelmeer ist klein genug, um Seeverkehr zu erleichtern: Regionen, die sonst getrennt wären, kamen in Konkurrenz. Bald trat Geld als verbindendes Element in den Vordergrund. Die Phönizier trugen mit ihren Handelsrouten und der Verbreitung des Alphabets zur Integration des Mittelmeerraums bei und nutzten Silber nach Gewicht sowie Rechnungspraktiken; die standardisierte Münzprägung entstand hingegen im lydischen Königreich und wurde später von Griechen und anderen übernommen.
Doch überall, wo sich Wohlstand sammelt, treten „stationäre Banditen“ auf – so nennen Ökonomen jene Macht, die lieber nimmt, als zu schaffen. Rom wurde zum Knoten eines weltumspannenden Versorgungsnetzes – und zum Zentrum dieses stationären Banditentums. Der Handel wich nach Norden: Norditalien fand in einer Lagune Zuflucht und baute in Städten wie Venedig, Genua, Pisa und Florenz ein neues Europa – eng beieinander, hart im Wettbewerb um die Handelswege des Mittelmeers.
Landwege gewannen an Bedeutung, die Textilwirtschaft drang nach Norden vor. In Gegenden des heutigen Bayern wurden Bauern zu Textilhändlern und schließlich zu Fabrikanten. Einer ihrer Enkel war ein gewisser Jakob Fugger.
Als junger Mann lernte er in Venedig zwei Innovationen kennen, die – über viele Umwege – viel später zu Bitcoin führen sollten. Erstens ein „Distributed Ledger“ im historischen Gewand: die doppelte Buchführung. Sie ist gewissermaßen die erste große „Digitalisierungswelle“ der Unternehmensführung: Wer sauber verbucht, vergleicht und gegenseitig bestätigt, kann steuern, kalkulieren, wirtschaftlich rechnen – ohne ständig physisch anwesend zu sein. Zweitens „algorithmisches Geld“: der Florin der Florentiner. Kaufleute erkannten: Das Gesicht auf der Münze ist irrelevant. Es zählt ein objektives, überprüfbares Kriterium, das sich der Willkür entzieht – Gewicht und Feingehalt. Ein Standard, der sich messen lässt: „Don’t trust, verify.“ Mit einfacher Dichte- und Gewichtsprüfung.
Florenz – abseits der Hochseefahrt, aber am Fluss gelegen – erkannte: Das eigentliche Kapital sind nicht die Schiffe, es ist die Liquidität, mit der man ungewisse Unternehmungen ausstattet. Sparsamkeit schafft Polster; breit gestreute Beteiligungen (Vorläufer von Aktiengesellschaften) ermöglichen riskante, aber kalkulierte Wagnisse. So wurde Florenz zum Zentrum einer händlergetriebenen Geldwirtschaft.
Fugger brachte diese Ideen nach Augsburg zurück – jedoch in größerer Distanz zu den Handelsströmen. Er begegnete der ewigen Versuchung der Politik: Herrscher, die das Geld anderer Leute ausgaben. Ein Fürst brauchte Glanz – und Kredit. Fugger stattete ihn aus, und als Gegenleistung gab es ein Wappen: frühe Fiat-Symbolik.
Das große Geschäft lag jedoch anderswo: im Metall. Silber – der „Altcoin“ der Geschichte – ließ sich besser zentral organisieren, solange man Minen kontrollierte. Im Alpenraum – insbesondere in Schwaz in Tirol – und später in Böhmen lagen reiche Vorkommen. Mit den Habsburgern fanden die Fugger die perfekten Partner: Der Staat verpfändete künftige Minenerträge, erhielt Vorfinanzierung und bezahlte damit seine Vorhaben. Eine Win-win-Situation – für „stationäre Banditen“ und findige Unternehmer.
Aus dieser Entwicklung erwuchsen neue Geldformen: Silberwährungen und der Taler (nach Joachimsthal) – die sprachliche Herkunft des Dollar. Ursprünglich solide gedeckt, näherten sich Geld und Staat doch immer weiter an.
Mit wachsender Zentralisierung in Norditalien nahm der Wohlstand dort ab. Historiker sprechen vom „Silberhunger“ – obwohl Silber angeblich im Überfluss vorhanden war. Der Grund: Reste „algorithmischen“ Geldes erlaubten „Self-Custody“ (Eigenverwahrung). Wer konnte, vergrub sein Silber oder brachte es in Sicherheit. Kapital ist mobil – und dorthin unterwegs, wo es nicht geplündert wird. Es zog nach Norden: zur Hanse, nach Flandern, in die Niederlande, nach Großbritannien. In Amsterdam trat ein neuer, hochmobiler „Wertspeicher“ auf: der Diamant – klein in der „Blockgröße“, groß im Wert, unauffällig transportabel.
Die Lehre der Österreichischen Schule: sinkende Grenzerträge – nicht nur ökonomisch, auch politisch. Wo der Staat zum „stationären Banditen“ wird, schrumpfen Erträge. Die vermeintliche Sicherheit verwandelt sich in ein Klumpenrisiko.
Die bürgerliche Existenz unserer Tage ist oft vollständig ortsgebunden: Job vor Ort, Kredit bei der örtlichen Bank, Immobilie am Ort des Jobs. Solange das Umfeld trägt, funktioniert es. Verschlechtern sich die Bedingungen, schnappt die Falle zu: Alternativlosigkeit erzeugt Panik.
„Europa“ bedeutete immer auch: mobil sein, vergleichen, weiterziehen, Chancen suchen. Unternehmerisch denken, Ungewissheit als Möglichkeit sehen, Erkenntnis um ihrer selbst willen suchen – und wieder weiterziehen, wenn Zentralisierung droht.
Information
Diesen Artikel finden Sie gedruckt zusammen mit vielen exklusiv nur dort publizierten Beiträgen in der am 28. November erscheinenden Dezember-Ausgabe eigentümlich frei Nr. 258.
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