22. November 2025
100 Jahre Anthony de Jasay: Weltbürger für die Freiheit
Über die Gerechtigkeit und ihr Umfeld
von Burkhard Sievert
Anthony de Jasay wurde am 15. Oktober 1925 als Antal Jászay in der ungarischen Stadt Aba geboren. Er verstarb am 23. Januar 2019 in der Normandie, wo er seinen Ruhestand als Privatgelehrter für Fragen der Ökonomie und Politischen Philosophie verbracht hatte. Sein Familienname leitet sich von der Stadt Jászó ab, aus der seine Familie ursprünglich stammt. Irgendwann erwarb sie ein Landgut in der Nähe von Aba. Mit etwa 16 Jahren begann er unsystematisch die zumeist deutsche ökonomische Literatur zu lesen. Sprachen flogen ihm zu. Im nahen Székesfehérvár besuchte er das Gymnasium. 1941 zog die Familie nach Budapest, wo er 1943 sein Abitur ablegte. 1947 schloss Anthony de Jasay sein Studium in Agrarökonomie an der Agrarwissenschaftlichen Fakultät in Budapest ab, obwohl er mehr Belletristik und ökonomische als fachliche Literatur las. Anschließend wollte er Politiker werden und als Abgeordneter in das Parlament einziehen. Er hätte das Landgut bewirtschaften und von dessen Erträgen leben können. Die Russen durchkreuzten seine Pläne und enteigneten ihn. Daher verdiente er von 1947 bis 1948 seinen Lebensunterhalt als freischaffender Journalist.
Hungern oder gehen ist die Alternative im Kommunismus
Nach Kriegsende 1945 besetzten die Sowjets die strategisch wichtigen Stellen in Ungarn und trieben den Ausbau der Geheimpolizei AVO voran. Die Bevölkerung wurde von den Kommunisten massiv eingeschüchtert. Ab 1947 wurden die Betriebe nach russischem Vorbild nationalisiert. Auf der Suche nach Arbeit entgegnete ihm ein Kommunist, der die Macht hatte, ihm eine Arbeit zu geben: „Sie und Ihresgleichen werden in diesem Land nie eine Arbeit bekommen.“
Hungern oder gehen war die Alternative. Anthony de Jasay floh 1948 mit lediglich vier kleinen Goldmünzen aus Ungarn. Er heuerte zwei ortskundige Forstarbeiter als Fluchthelfer an und hatte Glück, dass in jener Nacht keine Grenzpatrouille unterwegs war. Er sollte erst 1964 wieder in seine Heimat reisen können. In Österreich begann er bei der American Express Bank in Salzburg, die dort die amerikanischen Streitkräfte bediente. Nach einigen Monaten dort arbeitete er rund zwei Jahre für die amerikanische Besatzungsmacht. In jene Zeit fällt auch die Heirat mit seiner aus Ungarn nachgekommenen ersten Frau.
In der akademischen Welt
Mangels finanzieller Sicherheiten konnten sie nicht in die Vereinigten Staaten umziehen. Stattdessen gingen sie nach Australien. Sprachschwierigkeiten hatte Anthony de Jasay nicht, denn er hatte viel englische Literatur gelesen und sprach auf seiner Arbeit in Salzburg Englisch. Er nahm eine Arbeit in Perth an und begann in der Buchhaltungsabteilung einer Farmerkooperative. Anthony de Jasay überzeugte schnell mit seinen Arbeitsleistungen und arbeitete direkt dem Präsidenten der Kooperative zu. Die Tätigkeit war weder anstrengend noch zeitintensiv. Deshalb begann er in Perth an der University of Western Australia ein Abendstudium in Ökonomie. Er besuchte ein Seminar von Professor Wilfred Dowsett über das wissenschaftliche Werk von Alfred Marshall und kam zu seinem zweiten akademischen Titel. 1955 erhielt er ein Hackett-Studentenstipendium für Oxford.
Als Stipendiat und Doktorand begann Anthony de Jasay an der Universität in Oxford zunächst bei dem Ökonomen Roy Harrod und wechselte dann zu John Hicks. Sie waren beide Keynesianer. Anthony de Jasay stand der keynesianischen Theorie kritisch gegenüber. Trotzdem wurde er bald zum Forschungsstipendiaten an das Nuffield College gewählt. Er forschte dort, lehrte gleichzeitig am University College und gab Tutorien. In kurzen Abständen veröffentlichte er mehrere wissenschaftliche Beiträge in den angesehensten Fachzeitschriften: in der „Review of Economic Studies“, in den „Oxford Economic Papers“, im „Journal of Political Economy“, schließlich zweimal im „Economic Journal“. Wissenschaftlich waren diese Veröffentlichungen wertvoll, jedoch versäumte er dadurch, seine Doktorarbeit einzureichen. Zweimal scheiterte sein Versuch einer Festanstellung. Angesichts seiner Publikationsliste war diese doppelte Nichtwahl enttäuschend. Die fehlende materielle Unabhängigkeit als Wissenschaftler und der Wunsch seiner Frau, in Frankreich zu wohnen, sprachen gegen Oxford.
Wechsel in die Privatwirtschaft
1962 verließ er die akademische Welt und er zog mit seiner Frau nach Frankreich. Vermutlich legte er dort seinen Geburtsnamen Jászay Antal ab und nannte sich fortan Anthony de Jasay. In Paris begann er als Analytiker in einem von zwölf Banken aus zwölf verschiedenen Ländern gegründeten Konsortium. Die Arbeit in dem Wirtschaftsprüfungsunternehmen war abwechslungsreich. Er hatte bald die zweitwichtigste Position unter den über 100 Beschäftigten inne. Irgendwann kam es zu Spannungen mit der Unternehmensspitze, und die Geldgeber entschieden sich für seinen französischen Chef. Anthony de Jasay verließ das Konsortium. Es wurde wenige Monate später aufgelöst.
Er arbeitete ab sofort auf eigene Rechnung. Zwischen 1972 und 1974 gelang ihm die Fusion zweier großer Unternehmen aus der europäischen Versicherungsbranche. Damit schuf er sich eine solide finanzielle Basis, um ab 1974 als selbständiger Investor an der Börse tätig zu werden und auf diese Weise ein nicht unwesentliches Vermögen zu gewinnen.
Die Wende kam in den frühen 1980er Jahren mit Investitionen in die Entwicklung eines größeren Erdgasfeldes in Oklahoma. Das Projekt begann vielversprechend und endete in einem finanziellen Fiasko. Eine neue Luxuslimousine war jetzt nicht mehr drin, ansonsten änderte sich nichts. 1979 war er zusammen mit seiner zweiten Frau in die Normandie gezogen. Er fühlte sich sehr wohl in Janville. Der Weltbürger Anthony de Jasay zählte und rechnete auf Ungarisch, dachte und entwickelte seine Argumente auf Englisch. Seine Loyalität gehörte als englischer Staatsbürger Großbritannien. Alltagssprache zwischen seiner Frau und ihm war Französisch. Sein Deutsch war gut, und als Literat bewunderte er die Werke von Anthony Trollope.
Freiheit für die Gerechtigkeit
In der Abgeschiedenheit von Janville wurde Anthony de Jasay zum Privatgelehrten. 1985 veröffentlichte er mit „The State“ sein erstes Buch. Der Staat ist nicht seelenlos. Die Staatsbetreiber haben eigene Interessen. Kollektive Wahlen führen zur „churning society“. Die Umrührgesellschaft führt mit der Zeit zur Sklaverei für alle. Hardy Bouillon übersetzte „The State“ 2018 als „Der Staat“ ins Deutsche.
Im Laufe der Zeit veröffentlichte Anthony de Jasay weitere Bücher. In diesem Oktober hätte Anthony de Jasay seinen 100. Geburtstag gefeiert. Mit „Gerechtigkeit und ihr Umfeld“ liegt nun ein weiteres seiner Werke in deutscher Übersetzung vor. In diesem Buch stellt er eine Gerechtigkeitstheorie in den Mittelpunkt, die sich aus Freiheiten, frei übernommenen Verpflichtungen und von der Konvention abgeleitetem Unrecht ableitet. In dieser Theorie können nur ungerechte Handlungen Ungerechtigkeit erzeugen; und im Gegensatz zu den Behauptungen derzeit vorherrschender Theoretiker der „sozialen Gerechtigkeit“ ist die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen nicht ungerecht.
Neben seinen Büchern hat Anthony de Jasay zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten zu den Themen Wirtschaft und politischer Philosophie veröffentlicht. Zwei besonders einflussreiche Veröffentlichungen verdienen Erwähnung. Das bahnbrechende Werk „Freiheiten, ‚Rechte‘ und Rechte“ (erschienen in dem Buch „Politische Philosophie“) enthält rigorose Formulierungen von Schlüsselbegriffen, die in der „Gerechtigkeit und ihr Umfeld“ verwendet werden, und deckt die Inkohärenz des „Rightsism“, des Rechtsanspruchsdenkens, auf. Der kritische Aufsatz „Eigentum und seine Gegner“ (erschienen ebenfalls in dem Buch „Politische Philosophie“) befasst sich mit dem Begriff des Eigentums, wie es von Locke und dem „Giganten“ Hume gesehen wird, sowie mit den Bemühungen prominenter moderner Schriftsteller, diese klassischen Konzepte zu untergraben.
Das Œuvre von Anthony de Jasay hilft, die politische Geschichte unserer Zeit besser zu verstehen und sogar eine „Vorhersage“ über die Zukunft zu treffen. Anthony de Jasay unterscheidet zwischen Freiheiten und Rechten: Grob gesagt, hat im Falle einer Freiheit der Einsprechende die Beweislast, während im Falle eines Rechts derjenige, der behauptet, ein bestimmtes Recht zu haben, die Beweislast trägt. Oft entpuppen sich „Rechte“ als Ansprüche, die von den jeweiligen Mächten gewährt wurden, und die Begünstigten erleben diese „Rechte“ als etwas Normales und Natürliches. Daher erweist es sich als schwierig, wenn nicht gar unmöglich, sie zu entziehen. Wir beobachten einen Sperrklinkeneffekt, der oft historische Wellenmuster hervorruft: Der Wohlfahrtsstaat wird so lange ausgebaut, bis er unerschwinglich wird; Reformer versuchen dann, ihn wieder zurückzudrehen (wie Thatcher und Reagan, um nur zwei führende Beispiele zu nennen); die dann auftretenden Anpassungsprobleme geben Interessengruppen wie den Sozialhilfeempfängern die Möglichkeit, sich wieder durchzusetzen. Das sorgt dafür, dass sich der Wohlfahrtsstaat rächt. Ein Reformer wie Milei müsste das Wunder vollbringen, dass die Menschen ihr Verhalten ändern und sich der Politik und ihren Versprechungen entsagen. Die Reprivatisierung von Staatsunternehmen, eine Gegenökonomie abseits von jeglicher Staatlichkeit, könnte ein Mittel dazu sein.
Anthony de Jasays umfangreiches Werk ist prägnant, frei von Jargon und zeichnet sich durch seine Klarheit und sein Vertrauen auf logische Argumente aus. Es kommt einer umfassenden intellektuellen Verteidigung der Freiheit so nahe wie das, was einem einzelnen Denker wahrscheinlich möglich ist. Bemerkenswerterweise sind mindestens neun Zehntel des akademischen Establishments der Freiheit gegenüber entweder feindselig eingestellt oder ignorieren sie sorgfältig. Bislang haben ihr nur wenige führende Denker irgendeine Anerkennung gezollt. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass Anthony de Jasays Freiheitsansatz das genaue Gegenteil von dem ist, was an den meisten Universitäten vorherrscht. Eine andere ist, dass er eher ein unabhängiger als ein akademischer Gelehrter ist. Noch eine andere ist, dass er sich nur schwer in eine Schublade stecken lässt und keine Schule ihn für sich beansprucht. Vielleicht würde der Objektivismus von Ayn Rand passen. Nur tatsächliche Handlungen besitzen einen Wahrheitswert, sind objektiv wahr oder falsch. Dabei muss stets die Unfreiheit einer Handlung bewiesen werden, nicht die Freiheit der Handlung, diese versteht sich von selbst. Nicht Freiheiten bedürfen der Begründung – sondern ihre Einschränkung. Subjektive Handlungsgründe spielen für Anthony de Jasay eine untergeordnete Rolle. Freigeister werden von seinem Werk begeistert sein.
Information
Diesen Artikel finden Sie gedruckt zusammen mit vielen exklusiv nur dort publizierten Beiträgen in der am 24. Oktober erscheinenden November-Ausgabe eigentümlich frei Nr. 257.
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