05. Oktober 2025

Javier Milei Ein Betrüger?

Eine persönliche Abrechnung nach so vielen libertären Vorschusslorbeeren

von Andreas Tank

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Bildquelle: OSCAR GONZALEZ FUENTES / Shutterstock.com Die Show bleibt spitze: Javier Milei in seinem Element

Hallo, liebe Demokraten, liebe Tagträumer und liebe Bauchlibertäre. Hier kommt ein Eimer voller schwarzer Pillen, die den vermeintlichen libertären Helden Javier Milei infrage stellen werden. 

Zunächst aber: Die folgenden drei Sätze sage ich oft, und ich will an der Stelle auch gleich deutlich machen, dass das kein persönliches Glaubenscredo darstellt, dass es vielmehr a priori wahre Aussagen sind, über die sich allerhöchstens semantisch streiten lässt, deren Wahrheitsgehalt ansonsten aber in Stein gemeißelt ist. Erstens: Steuern sind Raub. Zweitens: Inflation ist Enteignung. Und drittens: Demokratie ist eine weiche Form von Kommunismus.

Raub ist die Wegnahme von Eigentum unter Anwendung oder Androhung von Gewalt. Steuern erfüllen exakt die gleichen Definitionsbedingungen. Inflation ist nichts anderes als eine versteckte Form der Steuer auf etwas anderem Wege. Wenn ich monatlich in einer bestimmten Währung bezahlt werde, und die zentralisierte Instanz, die diese Währung herausgibt, die Geldmenge vermehrt und in Umlauf bringt, dann steigt das allgemeine Preisniveau: Ich kann mit meinem Geld weniger Waren und Dienstleistungen kaufen. Ich werde also meiner Kaufkraft beraubt beziehungsweise meines Eigentums enteignet. Und Demokratie ist die Abstimmung der Mehrheit darüber, wie Konflikte entschieden werden sollen. Konflikte sind immer Konflikte über Eigentum. Wenn die Mehrheit also bestimmt, ob jemand beraubt oder enteignet werden soll, dann entspricht das einer langsamen, aber stetigen Form der Abschaffung des Privateigentums. Und das wiederum ist die Definition von Kommunismus. 

Wer sich selbst libertär nennt, der hat diese drei Punkte verinnerlicht. Nun kann jeder für sich entscheiden, wie konsequent libertär er argumentiert, also ob man als Minimalstaatler nur eine geringe Form von Raub zu gewissen zweckdienlichen Punkten befürwortet oder ob man „all in“ geht und sich sagt: Ausnahmslos jede Form von Raub ist moralisch verwerflich und ökonomisch schlechter als die Alternative. Jemanden heute zu berauben, um ihm morgen die doppelte Summe wieder zurückzugeben, ist trotzdem in keiner Weise zu rechtfertigen. Wenn man so argumentiert, dann vertritt man die Position des Anarchokapitalismus. Und das ist das Etikett, das Javier Milei sich selbst auf die Stirn geklebt hat. 

Er mag sich gewissermaßen korrigiert und zugegeben haben, dass er als demokratisch gewählter Präsident zunächst einmal zwangsläufig Minimalstaatler auf kurze Sicht ist, aber langfristig betrachtet sich Milei als Anarchokapitalist nach den Lehren von Murray Rothbard und Hans-Hermann Hoppe. Wenn wir Javier Mileis Taten im Amt als Präsident Argentiniens also vor den Augen der Grundsätze des Anarchokapitalismus kritisch betrachten, dann bleibt uns keine andere Wahl als ihn klar und deutlich als Abtrünnigen ebendieser Werte zu bezeichnen. Das festzustellen ist allerdings für viele Libertäre in diesen Tagen harter Tobak. Bei Milei sind der persönliche Bias, der Bestätigungsfehler, die Hoffnung und das blinde Vertrauen in Politiker einfach so groß, so dass man gern etwas wahrhaben will, was leider nicht der Realität entspricht. Und plötzlich kochen die Emotionen hoch und Mileis Kritiker werden schärfer angegangen als Milei selbst, was ich eindeutig nicht fair finde. 

Um das in einfache Worte zu packen, bevor wir uns den schweren Brocken widmen: Wenn du in einer WG lebst und dein Mitbewohner beklaut dich permanent und du schmeißt ihn raus und du suchst dir dann einen neuen Mitbewohner, weil du allein nicht die Miete bestreiten kannst, und der neue Mitbewohner beklaut dich zwar ebenfalls, aber in deutlich geringerem Ausmaß, dann kannst du zwar mit Fug und Recht behaupten, einen besseren Mitbewohner gefunden zu haben. Aber solltest du ihn deswegen feiern und bejubeln, statt ihn wegen seines Diebstahls zu ermahnen? Oder, um die Frauen unter den Lesern anzusprechen: Wenn du einen Freund hast, und der geht dir mehrmals die Woche mit anderen Frauen fremd, was machst du? Du trennst dich von ihm. Aber weil du nicht allein leben möchtest, suchst du dir einen neuen Freund, der dir erklärt, dass Menschen, die fremdgehen, für ihn der größte Abschaum sind. Daraufhin geht er dir nur einmal im Monat fremd. Solltest du ihn dann dafür feiern, dass er der bessere Freund ist? Selbst wenn alle deine Freunde dir erzählen, dass das der beste Freund ist, den du je hattest, solltest du doch trotzdem kritisch prüfen, ob seine Worte auch seinen Taten entsprechen. Du solltest gerade nicht bedingungslos alles absegnen, was er hinter deinem Rücken tut. 

Die Politik von Javier Milei im Amt

In einem Interview im Mai 2024 hat Javier Milei sein Tun erläutert. Er erklärte, dass manche Steuern schmutzig sind, manche verschwinden müssen und manche auf den Bezirk ankommen und dort Reformbedarf nötig sei. Sein Vorschlag war, das Steuersystem grundsätzlich so zu vereinfachen, dass es bezahlbar und verständlich sei – ich erinnere an Friedrich Merz und seinen Bierdeckel –, und die Staatsausgaben auf 25 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu begrenzen. Dazu meinte er dann, dass er sich lieber seinen Arm abschneide, als Steuern zu erhöhen. Später gab er zu, dass unter seiner Regierung manche Steuern erhöht – und andere gesenkt – wurden, ohne dass Milei fortan erkennbar der Arm fehlte.

Aus Mileis Position heraus war es natürlich immer einfach, die vorangegangene Regierung zu kritisieren. 200 Prozent Inflation sind so unglaublich maßlos, da hätten die Argentinier auch ein Haustier zum Präsidenten wählen können, es hätte die Situation unmöglich verschlimmern können. Wenn man sich aber selbst zu einem Anarchokapitalisten und Anti-Etatisten erklärt, dann sind mehr oder weniger ein Einfrieren der Staatsausgaben, Steuerreformen nach Vorbild Friedrich Merz’ oder die Erklärung, dass Argentinien das leuchtende wirtschaftliche Zentrum Lateinamerikas werden soll, eigentlich kein besonders offensives libertäres Bekenntnis. Insofern hätte man von Anfang an Bedenken anmelden können, ob Milei hier vertrauenswürdig ist. 

Libertäre können Nation und Nationalstaat voneinander trennen, Milei hat das nie getan. Ob das politische Taktik war, um die Konservativen mit ins Boot zu holen, oder ob Milei davon sogar überzeugt ist, muss ich der Interpretation des Lesers überlassen. In Bezug auf das Militär sagte Milei jedenfalls, dass der Bürger in Uniform als Held gefeiert werden soll und Argentinien eine starke Armee braucht, die von der gesamten Gesellschaft respektiert wird. Eine libertäre Position wäre, das Recht auf Waffenbesitz freizugeben oder zumindest stark zu lockern. Ein weiterer Punkt, der den Konservativen in die Hände spielt, ist es, den Krieg gegen die Drogen weiterzuführen, was bereits das Gegenteil von libertär ist. 

In Argentinien tritt Milei darüber hinaus offen dafür ein, politische Macht und Entscheidungsbefugnisse von den Regionen weg und hin zur Zentralregierung zu verlagern. Auch dies ist das genaue Gegenteil des libertären Wegs der Sezession hin zu tausend Liechtensteins auch in Südamerika.

Mileis politische Kaste 

Den Begriff „Kaste“ hat Milei im Wahlkampf selbst immer abwertend gegenüber den Linken benutzt. Wer aber sitzt nun in seinem Kabinett, ist Teil seiner eigenen „Kaste“? 

Zunächst haben wir hier Patricia Bullrich, Mileis Sicherheitsministerin, frühere Kongressabgeordnete und mehrfache Ministerin in verschiedenen Regierungen. Sie war Mileis Gegnerin im Wahlkampf um die Präsidentschaft. Milei hat sie eine „Terroristin“ genannt, weil sie in den 70er Jahren mit peronistischen Guerillaorganisationen verbandelt war. Auch unter dem Präsidenten Macri war sie bereits von 2015 bis 2019 Sicherheitsministerin und wollte alle Bürger Argentiniens einer DNA-Registrierung unterwerfen. Während „Corona“ hatte sie danach gefragt, ob man nicht alle Häuser einzeln nach Ungeimpften durchsuchen könne. Im Juli 2024 hat sie eine Einheit für künstliche Intelligenz zu Sicherheitszwecken gegründet, eine Art Palantir oder Skynet zur staatlichen Totalüberwachung im Netz. Im August hat sie Mileis Notstandsvollmachten dazu genutzt, um im Kongress ein Gesetz durchzubringen, das genetische Datenbanken für die Suche nach Kriminellen erweitert. Wie auch immer Milei es geschafft hat, sich mit seiner Hassgegnerin zu vertragen, inzwischen scheinen beide ziemlich dicke zu sein. 

Es folgt Frederico Sturzenegger, der jetzt Minister für Deregulierung und Transformation des Staates ist. Der Mann war keynesianischer Ökonomieprofessor in Harvard und hat die größte argentinische Ölfirma YPF geleitet, bevor sie unter Präsident Menem in den Jahren 1989/1990 privatisiert wurde. Sturzenegger war Wirtschaftsminister unter Präsident Fernando de la Rúa von 1999 bis 2001. Zwei Tage vor „Corralito“ – eine wirtschaftliche Totalkatastrophe, bei der tausende von Mittelständlern ihre Ersparnisse verloren haben – hat er gekündigt. Ihm wurde dennoch die Verantwortung dafür zugetragen. 2001 wurden ihm Verbindungen zu argentinischen Staatsanleihen nachgewiesen, die Auslandsschulden im Wert von 55 Milliarden verursacht hatten. 2016 wurde er freigesprochen. Sturzenegger war Präsident der Banco Ciudad zwischen 2008 und 2013 und Stellvertreter bis 2015, bevor Macri ihn zum Präsidenten der Zentralbank machte. In dieser Position schlug er vor, Bargeld zu verbieten. 2018 hat er dann gekündigt und ist ins Devisengeschäft eingestiegen. Milei ging so weit, ihn als „besten Präsidenten der Zentralbank in der Geschichte Argentiniens“ zu bezeichnen. 

Luis Caputo ist Mileis Wirtschaftsminister, ein Freund von Macri und der Onkel von Mileis Wahlkampf-Kampagnenstrategie, Santiago Caputo, der derzeit als sein Berater arbeitet. Caputo hat zuerst bei JP Morgan und der Deutschen Bank gearbeitet und später seinen eigenen Investmentfonds geleitet sowie im Vorstand einer argentinischen Energiefirma gesessen. Caputo war vor Sturzenegger Chef der Zentralbank und wurde in kürzester Zeit vermutlich der einflussreichste Mensch in Argentiniens Wirtschaft. Milei sagte selbst, dass Caputo 15 Milliarden Dollar an Reserven verantwortungslos verschwendet und die größte Katastrophe der Zentralbank in zwei oder drei Monaten verursacht habe. Im November 2023 sagte Milei dann, dass es keinen größeren Finanzexperten in Argentinien gebe als Caputo. 

Santiago Bausili ist Mileis jetziger Präsident der Zentralbank und war davor Caputos Partner in seinem Investmentfonds. Er hat ebenfalls für JP Morgan und die Deutsche Bank gearbeitet. Bausili wurde bereits 2021 wegen Insidergeschäften als Minister unter Macri verurteilt, aber die Gerichte haben daraufhin die Gesetze geändert. Im September 2023 wurde er erneut verurteilt, aber vom Bruder und Partner von Mileis Justizminister Mariano Cúneo Libarona verteidigt. Die Anklage wurde plötzlich zurückgezogen. Ein zentrales Argument der Verteidigung lautete, dass die Entscheidung, die Deutsche Bank für die Schulden von Argentinien heranzuziehen, gar nicht von Bausili stamme, sondern vom späteren Finanzminister Caputo. In der Zeit, in der Milei die Hoffnung weckte, dass er die Zentralbank schließen würde, hatte wenige Tage vor seiner Ernennung Bausili erklärt, dass die Zentralbank niemals geschlossen werden würde, solange er da sei. 

Guillermo Francos ist Mileis Stabschef, Anwalt und seit Jahrzehnten unter nahezu allen Regierungen in öffentlichen Ämtern. Selbst unter Isabel Perón und Cristina Kirchner, die Milei permanent vulgär beschimpft hat. Francos war Vorstand in mehreren Banken wie der Bank of the Province of Buenos Aires. Unter Daniel Scioli, Mileis Staatssekretär für Tourismus, Umwelt und Sport, waren Francos und Milei mehrere Jahre lang in einem Thinktank tätig, bei dem im August 2024 die drei Genannten wegen Unterschlagung öffentlicher Mittel, gefälschte Dokumente, Geldwäsche und verbotener Vereinigungen angezeigt wurden.

José Luis Vila ist Mileis Staatssekretär für Strategie und war schon unter Nestor und Kirchner tätig, nachdem er in Washington Counterterrorismus bei der CIA studiert hatte. Außerdem war er bereits unter Menem und Macri im Verteidigungsministerium aktiv. 

Das also ist Mileis politische Kaste in seinem eigenen Kabinett. Oder aber die Kaste und Zusammenstellung seiner inzwischen mit starken Korruptionsvorwürfen belasteten Schwester Karina Milei, wie manche munkeln? Offiziell jedenfalls wählt und ernennt der Präsident in Argentinien seine Minister direkt. Er legt die Struktur fest und kann jederzeit Minister auswählen und wieder entlassen. Kein Minister muss vom Kongress genehmigt werden, dieser hat lediglich das Recht, Anhörungen oder Resolutionen zu erlassen, aber er hat keine Veto-Rechte. Nach wie vor ist Milei in der Lage, all diese Kriminellen zu entlassen, die sich in den vergangenen Regimen allesamt die Hände verdammt schmutzig gemacht haben. Dass all diese Leute ihre innere Einstellung plötzlich um 180 Grad geändert haben, ist unwahrscheinlich. Viele waren Mileis direkte Rivalen. Die Vermutung liegt nahe, dass Milei deren Einfluss und Geld nutzt, um sich selbst mehr Macht zu verschaffen. Schlimmer noch: Milei hat tatsächlich einen Minister entlassen, nämlich seinen Außenminister Santiago Cafiero, als dieser in der UN-Vollversammlung gegen das US-Embargo gegenüber Kuba gestimmt hatte, also gegen Handelshemmnisse und für Freihandel, was eigentlich die libertäre Position ist oder sein sollte. Ein erster Hinweis auf Mileis neokonservative – und eben alles andere als libertäre – Außenpolitik. 

Als Hans-Hermann Hoppe (siehe ausführlich dessen Rede und Artikel in ef 247) bereits 2024 Milei kritisiert und eher mit Reagan oder Thatcher verglichen hat als mit dem radikal Libertären, der er vorgibt zu sein, hätte Milei wie ein Erwachsener antworten können – meiner Meinung nach sogar müssen, angesichts der Tatsache, dass er Hoppe vorher in höchsten Tönen gelobt hatte. Eine gute Reaktion wäre auch gewesen, wenn Milei ausführlich erklärt hätte, warum seine politische Macht angesichts seiner Minderheit im Parlament nicht ausreicht, um zum Beispiel die Zentralbank tatsächlich zu schließen oder gar zu sprengen, wie im Wahlkampf versprochen, und warum er das jetzt auf Umwegen vorhat. Eine solche Äußerung hat er aber nirgendwo getätigt. Milei hat vielmehr auf kindischste Art und Weise reagiert, als er sich im Dezember 2024 in einer Talkshow mit zwei ökonomischen Analphabeten plötzlich über Hoppes Unkenntnis in Sachen Wirtschaftswissenschaften lustig gemacht hat. Ernsthaft jetzt?

Der Rekordschuldenmacher

Die korrekte Vorgehensweise Mileis wären auch die Zurückweisung der Bezahlung von Schulden und damit die erfolgende Senkung der Inflation auf praktisch null gewesen, wie es auch Hoppe von ihm gefordert hatte. Milei konterte nun, dass eine Schließung der Zentralbank eine Hyperinflation verursacht hätte. Tatsächlich würde das Gegenteil passieren: Der Peso würde enorm an Wert gewinnen und die Argentinier würden davon profitieren. Durch die Abschaffung der Zentralbank würde der Zins entsprechend von Angebot und Nachfrage schwanken, während die Geldmenge des Pesos fixiert bliebe, da nun keine Erhöhung des Angebots mehr stattfände. Das führt zu der Annahme, dass die Nachfrage sehr wahrscheinlich stiege, was darüber hinaus auch der argentinischen Regierung helfen würde. Die Schulden des argentinischen Staates sind in US-Dollar denominiert und eine Aufwertung des Pesos würde ihre Schuldenlast verringern, da zur Rückzahlung der Schulden nun weniger Pesos benötigt würden. Nichtsdestotrotz wäre die Variante eines libertären Vertreters der Österreichischen Schule der Nationalökonomie natürlich die Ablehnung der Bedienung der Schulden. Die Schließung der Zentralbank wäre also selbst kurzfristig ideal und der Strategie einer Dollarisierung überlegen. Die Abschaffung der Zentralbank ist faktisch eine Freigabe der Währung beziehungsweise ein Währungswettbewerb. 

Aber ist es nicht vielleicht doch sinnvoll, dass Milei sich beim Internationalen Währungsfonds statt am freien Markt verschuldet, weil dieser womöglich günstigere Konditionen anbietet? Nun, Argentinien unter Milei bietet Investoren für argentinische Staatsanleihen eine Zinsrate von 69 Prozent an. Nur um deutlich zu machen, wie vollkommen wahnwitzig das ist: Die Investoren deutscher Staatsanleihen haben teilweise Geld dafür bezahlen müssen, deutsche Staatsanleihen kaufen zu dürfen, sprich: Wir hatten einen Negativzins, was zwar auch nur durch Geldsozialismus überhaupt möglich ist, aber es ist wohl selbst jedem Amateur in Sachen Finanzen intuitiv klar, dass mit Zinsen eine Risikoprämie verbunden ist und eine 69-Prozent-Zinsrate praktisch besagt, dass Argentinien kurz vor dem völligen Zahlungsausfall steht. Eine solche Zinsrate gab es nie zuvor, und trotzdem hat Milei es lediglich geschafft, 61 Prozent dieser Staatsanleihen tatsächlich zu verkaufen. Milei hat sich an den IWF gewandt, um seine Zentralbank und seine Regierung retten zu lassen. Mit den 20 Milliarden US-Dollar Schulden beim IWF, weiteren zwölf Milliarden bei der Weltbank und zehn Milliarden bei der Inter-American Development Bank hat der argentinische Staat es unter dem ersten angeblich libertären Präsidenten der Welt nun geschafft, sich höher zu verschulden, als das je zuvor der Fall gewesen war. Als Kirsche obendrauf kommt, dass Milei die argentinischen Goldreserven nach London verschiffen ließ, um nun überhaupt keine Deckung mehr durch irgendetwas zu haben. Der Wechselkurs des Pesos zum Dollar ist danach innerhalb von 21 Monaten um 30 Prozent gefallen, während der Dollar selbst gegenüber fast allen anderen Währungen einschließlich des Euros enorm gesunken ist. Allein im Juli ist der Kurs des Pesos gegenüber dem Dollar um 13 Prozent gefallen. Auch wenn wir davon ausgehen müssen, dass Regierungsstatistiken bezüglich Inflation anhand von Warenkörben immer und überall manipuliert sind, sieht es selbst anhand der offiziellen Zahlen nach einer Tragödie aus, die Milei unmöglich auf seine Vorgänger abwälzen kann. Inflation ist keine Krankheit, die zufällig in die Welt kommt, sie ist menschengemacht. Das Problem lässt sich leicht lösen: Hör auf, Geld zu drucken! Aber Milei wollte eben nicht aufhören damit.

Kennen Sie eigentlich die Geschichte, als die Amerikaner die irakische Zentralbank zerstört haben? Das hat damals den irakischen Dinar tatsächlich nicht inflationiert, sondern vielmehr aufgewertet, weil der Irak im Krieg nun seine eigene Währung nicht mehr aufblähen konnte. 

Milei ist kein Ludwig Erhard

Eine andere Geschichte: In der deutschen Nachkriegszeit hat Ludwig Erhard die Preisvorgaben der alliierten Militärregierung in seinem Schreibtisch gesammelt und an einem Freitagnachmittag, als sämtliche Soldaten Feierabend hatten, im Radio verkündet, dass die Preisvorgaben aufgehoben sind. Über Nacht war das hektische Treiben des Schwarzmarkts vorbei, und bereits am Samstagmorgen waren die Regale in den Läden gefüllt. Die Deutschen konnten wieder einkaufen und produktiven Tätigkeiten nachgehen. Am Montag hat die Militärregierung Erhard zu sich zitiert und ihm erklärt, dass er gegen sämtliche Gesetze verstoßen habe. Auf die Frage, wogegen er genau verstoßen hätte, sie sollten ihm das bitte genau vorlesen, antworteten sie ihm, dass er keine Änderungen der Preise hätte vornehmen dürfen. Er antwortete wiederum, er habe ja nichts geändert, sondern die Bindung selbst aufgehoben. Ludwig Erhard hat sich sein gesamtes Leben gegen den Begriff „Wirtschaftswunder“ gewehrt, weil er im Grunde nichts weiter getan hat, als die falschen ökonomischen Vorgaben der Regierung einfach aufzuheben, zu sprengen. Als sich herausstellte, dass das ein gigantischer Erfolg war, haben auch die Amerikaner davon abgelassen, ihn dafür verurteilen zu wollen. Und die SPD, die ein Amtsenthebungsverfahren angestrengt hatte, musste zugeben, dass Erhard doch goldrichtig gehandelt hatte. Milei hat nirgendwo annähernd ähnlich gehandelt, er hat die Zentralbank nicht über Nacht geschlossen.

Unter der Regierung Milei fand eine Reduzierung der Staatsbeamten besonders in den Bereichen statt, die öffentliche Aufmerksamkeit erregen wie bei der Straßenausbesserung. Die Straßen wurden unter Milei keineswegs privatisiert. Der amerikanische Libertäre Tom Woods hat schon öfter angemerkt, dass es ein geschickter Schachzug von Regierungen ist, wenn sie sich gezwungen sehen, ihre Ausgaben senken zu müssen, dass sie diese nicht bei Bullshit-Jobs in der Bürokratie senken, sondern dort, wo die Leute es spüren und gar nicht haben wollen. Tom Woods macht den Punkt, dass die Stadt New York einmal ganz bewusst die Kartenabreißer der Freiheitsstatue entlassen hatte, woraufhin keine Touristen mehr die Freiheitsstatue besuchen konnten, was zu Protesten führte. Was passierte dann? Natürlich erhöhte die Regierung die Ausgaben gleich wieder, stellte zusätzliche Leute im Staatsdienst an und erklärte, dass man ja gesehen habe, dass es anders nicht gehe. Natürlich wollen auch die Argentinier möglichst sicher und ungehindert von A nach B kommen, sie hassen Schlaglöcher, die nicht mehr repariert werden, „weil doch Milei die Staatsausgaben kürzte“.

Zusammengefasst hat Milei die Inflation, manche Steuern und die Schulden erhöht. Keiner dieser drei Schritte entspricht auch nur ansatzweise den Lehren der Österreichischen Schule, die Milei behauptet zu vertreten. Was wir bekommen haben, waren Lippenbekenntnisse, hübsche Bilder von Kettensägen – und einen Haufen Lügen. Womöglich ist das, was Milei über einen hier weitgehend unbeachtet gebliebenen Memecoin-Betrug hinaus im viel größeren Stil mit seinem gesamten Land abzieht, der größte Betrug in der Geschichte, zumindest in der Geschichte des Libertarismus. 

Eine interventionistische und neokonservative Außenpolitik, keine libertäre

Die meisten Menschen sind in Bezug auf Ökonomie bereits Analphabeten, auch wenn sie glauben, alles besser zu wissen. Aber in Bezug auf die Ukraine oder gar Israel werden die meisten Menschen in ihrem Unwissen auch noch sehr emotional. Dann sind sie schnell von noch deutlich mehr Propaganda besessen als bei falschen Vorstellungen über die Wirtschaft. 

Javier Milei hat mehrfach Kriegshilfen auf Kosten seiner eigenen Bevölkerung an die Ukraine geschickt, was mit nicht-interventionistischer libertärer Außenpolitik – siehe Rothbard oder Hoppe und viele andere libertäre Vordenker zu diesem Thema – nicht das Geringste gemein hat. Und in Bezug auf Israel und seiner außenpolitischen Konflikte ist Milei noch sehr viel einäugiger, ja fanatischer, und er bestreitet das ja auch gar nicht. Dabei sind auch meisten Israelis genauso links wie die meisten Deutschen und mögen ihre Regierung eigentlich nicht sonderlich. Ich persönlich denke, dass die Ermöglichung von wie auch immer geartetem friedvollen Nebeneinanderleben in Israel, Gaza und dem Westjordanland den größten Schritt in Richtung Weltfrieden bedeuten würde, den wir uns vorstellen können. Und ich halte eine libertäre, anarchokapitalistische und damit eben nicht-interventionistische Außenpolitik für den geeigneten Schritt dorthin. Diese Einsichten aber schleudert Netanjahu-Freund Milei, der unkritische Unterstützer der israelischen Regierung in all ihrem Tun, völlig beiseite. 

Zum Abschluss noch ein Appell an die Fraktion „Ich hab’s dir ja gesagt und von Anfang an gewusst“, die immer auftaucht: Ihr seid nicht besser als die unverdrossenen Ultra-Fans von Milei! Dass Milei zum Beispiel an der Klagemauer gebetet hat, sagt für sich genommen überhaupt nichts und ist seine Privatsache! Dass eine große Anzahl von Neokonservativen und trotzkistischen Kommunisten Juden sind oder waren, ist kein Beweis für gar nichts. Ludwig von Mises und Murray Rothbard waren auch Juden, und die beiden waren die reinsten Libertären, Nicht-Interventionisten und Kapitalisten, die es wohl je gegeben hat. Wer eine solche Form der Kontaktschuld propagiert, erweist der Freiheit einen ähnlichen Bärendienst wie der heutige vermeintliche Welt-Vorzeige-Libertäre Javier Milei mit seiner ganz realen Politik. 

Wem diese allerdings gleichgültig ist und wer die grundsätzliche Außenwirkung und Lippenbekenntnisse mehr schätzt als die ungeschönte Wahrheit, der mag weiter auf Mileis Ausstrahlung setzen und, ja, der hat damit durchaus einen Punkt. In meinen Augen aber ist Javier Milei, der „libertäre“ Präsident von Argentinien, ein Betrüger, der sämtliche Werte der Freiheit und Anliegen der Österreichischen Schule der Nationalökonomie bereits verraten hat. 

Information

Diesen Artikel finden Sie gedruckt zusammen mit vielen exklusiv nur dort publizierten Beiträgen in der am 20. September erscheinenden Oktober-Ausgabe eigentümlich frei Nr. 256.


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