02. Juni 2025
(Politik-) Verdrossenheit: Geplatzte Illusionen
„Backe, backe Kuchen ...“
von Kurt Kowalsky

Der Bundespräsident hatte Mitte Mai seinen Dienstsitz für drei Tage ins sächsische Delitzsch verlegt. Der Mann heißt Steinmeier, was mir so überhaupt nicht präsent war. Aber ich erinnere mich, es ist der Politiker, der sich vor Jahren sofort seines Mundschutzlappens entledigte, als er der irrigen Meinung war, dass die Kameras aus waren. Er ist also ein Vertreter der Kategorie von Mitmenschen, von denen man vielleicht keinen Gebrauchtwagen kaufen würde.
Laut MDR hat das Staatsoberhaupt in Delitzsch „regiert, zugehört und das Gespräch gesucht“. Ob ein Bundespräsident „regiert“, kann bezweifelt werden. Mit Sprengstoffhunden im Vorfeld, den gepanzerten Limousinen und einem Tross aus Assistenten bleibt der Herr so fern vom arbeitslosen Tagebaukumpel in Delitzsch wie der Mond von Sachsen. Was er hört? Nicht mehr als das Rauschen seines eigenen Systems.
Im Interview mit dem MDR ging es dann um „wachsende
Politikverdrossenheit auf dem Land, die Angst vor dem Erstarken der AfD und
über die Fehler der Ampelkoalition“. Man beachte den Satzbau und die
tendenziöse Aufzählung.
2025 bei der Bundestagswahl gaben in Delitzsch 39,2 Prozent ihre Stimme
der AfD – mehr als CDU und SPD zusammen. Die wie immer konfabulierte Angst
kommt also etwas zu spät.
Würde man mal unvoreingenommen den Leuten zuhören, wäre man doch sehr überrascht, welche Fehlvorstellung sie im Allgemeinen umtreibt. Steinmeier, selbst ehemaliger Redakteur einer vom Verfassungsschutz beobachteten linken Postille, hätte an Karl Marx erinnern müssen, der da treffend analysierte, dass das Wahlrecht in einer kapitalistischen Gesellschaft die Arbeiterklasse lediglich in eine Illusion politischer Macht versetze. Die 39,2 Prozent für die AfD in Delitzsch zeigen, wie sehr die Illusion, durch Wahlen Macht zu erobern, weiterlebt – genau wie Marx es vorhersah. Doch ob AfD, SPD oder CDU: Das Kreuzchen ändert nichts am ethisch defekten Herrschaftssystem.
Auch den Vertretern der Ansicht, dass Probieren über Studieren ginge, hätte es so langsam dämmern müssen, dass es wohl eine urbane
Legende oder skurrile Anekdote sein muss, dass vom Volke die Macht ausginge.
Denn unabhängig des jeweiligen Wahlausganges (ob SED-Nachfolger, Christ- oder
Sozialdemokraten), immer wird eine Politik exekutiert, die rücksichtslos in die
Integrität der Menschen eingreift, sie bevormundet, letztlich entmündigt, und
stets ist jeder Widerstand zwecklos.
Nein, ich möchte mich hier mit keinem politologischen Exkurs wichtigmachen.
Bereits einfache Ursache-Wirkung-Überlegungen führen nämlich zu der Erkenntnis,
dass der Begriff Volk ein mentales Konstrukt ist, dessen Willen weder klar noch
ernsthaft sein kann.
Für den Willen des Volkes unterziehe man einmal probehalber – bei Beachtung der strafrechtlichen Konsequenzen – seinen Nachbarn einer hochnotpeinlichen Befragung. Fragen Sie ihn nicht, was er alles geschenkt haben will, sondern, was er selbst zu bezahlen willens und in der Lage ist. Die Antwort wird seine Widersprüche offenbaren.
Willen, definiert als die bewusste, zielgerichtete
Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und Handlungen auszuführen, ist schon beim
Individuum selten eindeutig. Der „Volkswille“ ist ein kollektivistisches
Trugbild, das nur die Illusion von Macht nährt.
Einig sind sich die guten Demokraten in der Regel nur in der Anwendung von
Gewalt. Das ist ihnen nur nicht bewusst. Doch auch die „richtige“ Politik,
legitimiert durch das alle paar Jahre gemachte dumme Kreuz, würde letztendlich
gewaltsam exekutiert.
Das moralisch Verwerfliche, das ethisch Defekte daran ist, dass die Norm, das
Gesetz, auf dem Exekutionen beruhen, von dem Bürger oder von der Gemeinschaft,
in der er lebt, nicht gesellig verabschiedet wurde, sondern von denen gesetzt
wurde, auf die man beim dummen Kreuzchen machen noch alle Hoffnung setzte.
Es ist also kein Wunder, dass nach einer repräsentativen wissenschaftlichen Untersuchung im Auftrag der Landesregierung in Dresden fast 90 Prozent angaben, wenig oder gar kein Vertrauen in die Parteien im Allgemeinen zu haben. 85 Prozent fehlen dieses Zutrauen in die Medien und 76 Prozent in den Bundestag.
Enttäuschung ist das Ergebnis einer Diskrepanz zwischen dem, was wir uns vorgestellt haben, und dem, was tatsächlich passiert ist. Wer sie beklagt, möchte im Grunde genommen weiter getäuscht werden. Die Wahlerfolge der AfD belegen dann, dass die Täuschung andauert. Die Illusion, mit der Wahl einer bestimmten oppositionellen Partei Regierungshandeln in seinem Sinne verändern zu können, hält sich offenbar hartnäckig.
Heute enttäuscht die Partei, auf welche die Wähler gestern noch ihre Hoffnungen setzte. Wer glaubt, dass die Hoffnungsträger von heute morgen nicht enttäuschen werden, glaubt wahrscheinlich auch an die unbefleckte Empfängnis des Weihnachtsmanns durch Coca-Cola.
Wer nämlich die Herrschaftsform des Demokratismus auch nur annährend verstanden hat, hätte auch wie Dantès im Roman „Der Graf vom Monte Christo“ die letzten 14 Jahre in Kerkerhaft verbringen können, um zu erkennen, dass – sobald sich die meisten politischen Gauner beim Regieren erst einmal abgewechselt haben – wie Phönix aus der Asche eine neue Partei auftritt und genau die Versprechen abgibt, welche die anderen bereits gebrochen haben.
Anlässlich dieser Tatsachen könnte man vom Bundespräsidenten nun erwarten, dass er diese Problematik aufgreift. Dass er den mangelnden politischen Diskurs thematisiert. Weit gefehlt! Der (westdeutsche) Redakteur des MDR in Dresden beklagt sich gesprächsweise über ein abgerissenes Wahlplakat der Grünen. Ich kenne mich in Sachsen nicht aus. In Berlin fand man im letzten Wahlkampf kein AfD-Plakat in Reichweite der politisch linken Schmierfinken, das nicht durch ein Hakenkreuz oder anderweitig verunstaltet worden ist.
Natürlich konnte man nicht erwarten, dass das Staatsoberhaupt erklärt, die jetzige Regierung gründe sich auf die größte Wählertäuschung der vergangenen 75 Jahre. Aber die Herrschaften darauf hinzuweisen, dass man zehn Millionen Wähler und ihre Partei nicht durch Geschäftsordnungstricks und Brandmauern von etwas Besseren belehren kann, wäre nicht mehr als fair gewesen. Pfeifendeckel!
Was hinter der Brandmauer brennt, ist dann auch mehr als banal. Es sind die alten Kamellen, die sämtlich in den Parteiprogrammen von CDU, SPD oder den Grünen in früheren Jahren zu finden waren. Das mit den verschiedenen, sich nicht vertragenden Kulturen hatte bereits Altbundeskanzler Schmidt wiederholt thematisiert.
Zeitenwechsel: „Apfelkuchen“
Der Begriff des politischen Gauners ist im Grunde eine
Auszeichnung für Schläue. Auch Trickbetrug muss man können. Wenn Marx
beispielsweise geahnt hätte, mit welcher Raffinesse die alten Sozialdemokraten
den Kapitalismus aushöhlten und das bourgeoise Recht auf Eigentum zu einer
willkürlichen Variablen machten, er hätte seine Revolutionsphantasien in die
Tonne gehauen. Der Welt wären Millionen von Toten erspart geblieben und den
Unbedarften eine Geisteskrankheit.
Doch diese Zeiten sind wohl vorbei. Wer politisches Geschick von den sich an
die Macht gemogelten Figuren erwartet, wird enttäuscht. Welcher Lügenbold
wollte die AfD halbieren? Gibt es noch jemand in der CDU, der nur einen Funken
Ehre und Anstand besitzt?
Und so greifen die gescheiterten Illusionisten,
Trickbetrüger und entlarvten Lügner zu dem, was ihnen noch verbleibt: Gewalt.
Bis zum letzten Atemzuge werden sie mit Hauen und Stechen ihre Pfründe
verteidigen, indem sie die Gesetze verschärfen, die Presse und Meinungsfreiheit
einschränken, die Verfolgung Andersdenkender optimieren. Offen und ungehindert
feixen Staatsanwälte in die Kameras und verkünden ihre Freude darüber, den
Beschuldigten ihre Handys wegnehmen zu können.
Mit einer Lawine an Strafbefehlen wegen Beleidigung, Volksverhetzung oder des
Verwendens verfassungswidriger Kennzeichen werden Bürger eingeschüchtert.
Ständig wird angeblich das öffentliche Wirken der Politiker „erheblich
eingeschränkt“. Die vergangene Wählertäuschung erfolgte allerdings noch
uneingeschränkt. Und Beleidigung (zu differenzieren von übler Nachrede,
Bedrohung oder Nachstellungen) ist nicht wirklich eine Straftat.
Aber vermeiden Sie das Wort „Apfelkuchen“. Der letzte Reichskanzler hatte ihn gerne gegessen. Vielleicht entscheidet man morgen in Bamberg oder an anderen Orten, dass dies ein Code zur Verherrlichung nationalsozialistischer Ideologie sei. Es geht um den unbestimmten Paragraphen 86a Strafgesetzbuch. Er ist ein verfassungswidriges Musterbeispiel, wie man „Jüdisches Poker“ in bestimmten Juristenkreisen spielt.
Während in der Kurzgeschichte von Ephraim Kishon Poker ohne Karten gespielt wird und der gewinnt, der sich die höchste Zahl gedacht hat, verurteilt man in der Bundesrepublik Deutschland ohne konkrete Gesetzesnorm. Der Missliebige sagt „Apfelkuchen für Deutschland“ und schon sucht irgendein Richter eine Entsprechung oder Ähnlichkeit mit einer Naziparole.
Bereits das Wort „Deutschland“ ist irgendwie verpönt. Obwohl
sich nach Artikel 1 Grundgesetz das deutsche Volk noch „bekennt“, alle
Deutschen „Rechte haben“ und so weiter. Was Hinz und Kunz allerdings nur schwer
verstehen, ist, dass sie von Brüssel regiert werden.
Und nein, Herr Bundespräsident, nicht die AfD hat Homosexuelle in ihrer
Existenz bedroht, sondern dieser Staat ließ von 1871 bis 1994 durch den
Paragraphen 175 Strafgesetzbuch Homosexuelle kriminalisieren, manche sogar
am Arbeitsplatz verhaften. Und nicht die AfD hat sich dem Verbrecher Putin
angedient, sondern Sie haben als Schröders Kanzleramtschef und Außenminister
kräftig mitgeholfen, Deutschland von Russlands Gas abhängig zu machen – ein
Meisterwerk politischer Kurzsichtigkeit.
Nun, der erwähnte Dantès hatte sich in den Leichensack seines verstorbenen Mitgefangenen gelegt und wurde so ins Meer geworfen. Mit einem Messer befreite er sich aus dem Sack und rettete sich auf ein Piratenschiff. Ja, so war das im Roman vor Einführung der Messerverbotszonen, dem Rauchverbot in Zigarrenclubs, dem gesicherten Rechtsextremismus und dem Einsatz von Spezialeinheiten gegen Kinder, die sich im Buddelkasten ein Königreich zusammenbackten. „Backe, backe Kuchen. Der Staatsschutz hat gerufen.“
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