31. Januar 2025
Zäsur im deutschen Politbetrieb: Der Nimbus ist dahin
Geht die „Ära des Schreckens“ langsam zu Ende?
von Jan Mehring
Das werden lange, kopfschmerzenreiche Nächte in deutschen Redaktionsstuben. Dabei hatten diese im Zuge der Causa Musk-AfD doch gerade erst all ihre Aspirin-Vorratslager gestürmt. Da nun auch noch der bereits im Vorfeld von viel Medienrummel begleitete Unions-Antrag zur Problematisierung der (illegalen) Massenmigration neben den Stimmen der FDP mit jenen der unberührbaren AfD zur Mehrheit gelangte, ist wochenlanger Gemütsnotstand vorprogrammiert.
Völlig unabhängig davon, was nun am Freitag dieser Sitzungswoche mit etwaigen Gesetzesvorlagen im Plenum oder auch nach den Neuwahlen am 23. Februar mit Blick auf Koalitionsoptionen der Union, zu denen noch eine sehr umfangreiche Analyse folgen wird, geschehen mag: Dieser Tag ist für sich allein genommen nichts Geringeres als eine polit-historische Zäsur, die auch in den Publikationsstuben der Politik-, der Medien- und weiterer benachbarter Wissenschaften für lange Nächte sorgen dürfte.
Diese Zäsur markiert nämlich einen tiefen Riss in jener Machtkomponente oder -manifestationsform, die in entsprechenden wissenschaftlichen Kreisen als „soft power“ bezeichnet wird. In Abgrenzung zur „hard power“, der Fähigkeit, Akteure mit physischer (meist militärischer) Gewalt (-androhung) zu den vom Gewaltanwender gewünschten Handlungen zu bewegen, bezieht sich „soft power“ je nach Definition auf alle sonstigen Sachverhalte oder aktiven Handlungen, deren reine Existenz beziehungsweise aktive Ausführung selbiges erreichen können.
Im Rückspiegel: eine Ära des Schreckens
Der Einfluss des US-Dollar, der Stand der eigenen (heutzutage englischen) Sprache als weltweite kommunikative Schnittstelle, die Oberhoheit über unverzichtbare Infrastrukturen, die Definitionsmacht des moralisch Richtigen und Falschen – all diese Instrumente sind mögliche Quellen ebensolcher „soft power“.
Mit letzterer Definitionsmacht haben linke Parteien, Medien- und Kulturschaffende, Medienfiguren und sonstige Akteure einen beispiellosen Einfluss auf den politischen und privaten Betrieb in der Bundesrepublik Deutschland genommen. Wahl-, Kauf-, Mobilitäts-, Denk-, Sprach- und Offenheitsverhalten, ja sogar politisch erwogene Umstrukturierung des eigenen sozialen Kontaktumfelds (siehe Pandemiejahre) waren (und sind oft noch immer) in sämtlichen gesellschaftlichen Milieus zu beobachten.
Im Konkreten war diese Art der „soft power“ unter anderem in der Lage, Menschen dazu zu bewegen, allein aufgrund angeblicher sozialer Erwünschtheit objektiv eigenschädliche Politik beziehungsweise Politiker wiederzuwählen, untaugliche Produkte zu kaufen beziehungsweise irrationale Unternehmensentscheidungen zu treffen, eigene Logos im Zuge geliehener Meinungen mit fremden Nationalfarben zu „schmücken“, sich in fremden Kriegen mit Haut und Haar auf eine Seite zu stellen, zaghaft und mit den Knien schlotternd mit der Schere im Kopf zu sprechen und zu denken oder andere Menschen zu individuellen medizinischen Entscheidungen zu drängen.
Diese immense Vielfalt der Kontexte, in denen derartige Verhaltensabweichungen erzielt werden können, sowie die Tatsache, dass sich viele weder als manipuliert und gedrängt erkennen oder fühlen (wollen), macht diese „soft power“ zu einem derart mächtigen Werkzeug der Macht. Im Gegensatz zur „hard power“, deren Einsatz heutzutage in besagten Wissenschaften längst als Schwäche gilt, da sie offen sichtbar ist und ungleich größeren Gegenwind provoziert, wirkt „soft power“ vor allem tiefenpsychologisch, meist in homöopathischen Dosen und in aller Regel abseits jeder strafrechtlichen Relevanz und Erfassbarkeit.
Ein politisches Geschäftsmodell liegt in Trümmern
Hierzulande ging diese Definitionsmacht des vermeintlich Richtigen und Falschen nie aus dem Wettbewerb der Argumente, sondern stets aus dem nimmermüden und schrillen Gekreische hypersensibler politischer Kreise hervor, dem der sogenannte „Marsch durch die Institutionen“ vollauf gelungen ist. Ob in den politischen oder vielen (besonders hohen) Bildungsinstitutionen, in den meisten Redaktionsstuben, an Tresen diverser Szenebars und -kneipen oder in, was besonders perfide ist, weit in den privaten und vermeintlich politikfreien Rückzugsraum reichenden Unterhaltungsprodukten – der nächste konformitätserzwingende Subtext oder auch menschliche Schreihals vom Dienst war niemals weit und ist es auch heute (noch) nicht.
Allerdings ist mit der am Mittwoch erfolgten Antragsabstimmung im Bundestag trotz – oder gerade wegen – ihres symbolischen Charakters die schiere Macht des simplen Nein-Sagens offenbar geworden. Die effektivste Methode des Widerstands gegen „soft power“ dieser Art ist, sich schlicht nicht von ihr beeindrucken, beugen und letztlich Gehorsamsverhalten folgen zu lassen.
Mit diesem Tage ist das so mächtige Schwert der „soft power“ erstmals, aber unwiderruflich angeknackst. Es wird womöglich Wochen dauern, bis sich der Protest gegen diesen eigentlich vollkommen unspektakulären, da verfassungsideell ausdrücklich vorgesehenen parlamentarischen Vorgang gelegt haben wird. Doch danach, wenn der politische Betrieb eben doch wieder irgendwie weitergeht, wie es nach jedem größeren historischen Ereignis in der Bundesrepublik bislang der Fall gewesen ist, dürfte allen beteiligten Akteuren je nach Perspektive freudig oder schmerzlich klar sein: Die Methodik des hysterischen Kreischens wird nie wieder so wirksam sein, wie sie einstmals war.
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