16. Dezember 2024

Naher Osten Der Umsturz in Syrien

Und was die Mainstreammedien verschwiegen

von Klaus Peter Krause

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Bildquelle: Harold Escalona / Shutterstock Einstiger Hoffnungsträger Baschar al-Assad: Jetzt für die Medien nur noch der „Schlächter von Damaskus“

Das kam mir doch gleich seltsam vor. Was ich zum Umsturz in Syrien aus den Lückenmedien des politischen Mainstreams als Erstes erfuhr, konnte nicht das ganze Geschehen sein. Wie aus heiterem Himmel schien das Assad-Regime unversehens und erstaunlich schnell gefallen zu sein. Urplötzlich war Baschar al-Assad gestürzt, zunächst verschwunden und dann gleich wieder aufgetaucht: als Asylant in Russland, das ihn mit seiner Familie aufgenommen hat. Hatten denn die Rebellen gegen ihn alle Schutzkräfte des Landes binnen weniger Tage überrannt? Militär? Polizei? Geheimdienste? Hatte es keine erbitterten Abwehrkämpfe gegeben, keine Blutopfer, keinerlei Widerstand? Sollte sich ein doch im Inneren so hochgeschütztes Regime kampflos ergeben haben? Syriens Ministerpräsident Mohammad Ghazi al-Dschalali, der offenbar noch amtierte, kündigte gar an, für die Übergangszeit mit den Rebellen zusammenarbeiten zu wollen, und plädierte für freie Wahlen.

Begonnen hatte die Woche am 9. Dezember mit Schlagzeilen wie „Rebellen stürzen Assad“ und „Siegesfeiern in den von Rebellen eroberten Gebieten“. Syrer außerhalb des Landes jubelten ebenfalls. Die Rebellen schienen in den letzten Tagen überaus schnell vorgestoßen zu sein. Am Morgen des 8. Dezember hatte die islamistischen Rebellenallianz „Hay’at Tahrir al-Scham“ (HTS) die Einnahme der Hauptstadt Damaskus vermeldet und für die Nacht vom Sonntag auf Montag eine Ausgangssperre verhängt. All dies ist in der Tat geschehen, aber auch nur die halbe Wahrheit. Den vollständigen Hergang erfuhr ich dann zunächst aus dem Schweizer Informationsportal „Globalbridge“unter der Überschrift „Syrienin Trümmern – und was die Medien verschweigen“.

Wichtige Fakten unterdrückt, Schuldzuweisungen in die falsche Richtung

Den Bericht seiner Mitarbeiterin leitet die Redaktion von „Globalbridge“ so ein: „Unsere Nahostkorrespondentin Karin Leukefeld – sie schreibt nicht aus dem bequemen Büro in Deutschland, sondern lebt im Nahen Osten – macht in einem hochaktuellen Bericht deutlich, wie die Medien einmal mehr mit der Unterdrückung wichtiger Fakten die geopolitische Situation einseitig beschreiben und Schuldzuweisungen in die falsche Richtung machen. Vor allem wird die maßgebliche Beteiligung der USA und der EU mit ihren Sanktionen am bisherigen wirtschaftlichen Elend in Syrien schlicht verschwiegen.“ Karin Leukefeld schreibt unter anderem:

Worüber die „Qualitäts-Medien“ der Welt jahrelang geschwiegen haben

„Wie während des Krieges seit 2011 erklären auch jetzt wieder westliche und westlich orientierte ‚Qualitäts-Medien‘ der Welt, was in Syrien geschieht. Jahrelang haben sie geschwiegen über die Folgen ausländischer Interventionen, über geheime Bewaffnungs- und Ausbildungsprogramme für die bewaffneten Aufständischen ausländischer Geheimdienste. Sie schwiegen über die völkerrechtswidrige Besatzung syrischer Rohstoffe und von syrischem Territorium durch ausländische Truppen. Sie schwiegen über die Auswirkungen weitreichender einseitiger wirtschaftlicher Strafmaßnahmen (Sanktionen) der Europäischen Union, mit denen Syrien und seine Regierung ‚gebeugt‘ werden sollte. Sie schwiegen über die Auswirkungen des einseitig von den USA verhängten ‚Caesar Gesetzes‘, mit dem jede Investition, jeder Handel mit Syrien von den USA kriminalisiert und mit finanziellen Sanktionen bestraft werden konnte. Die Auswirkungen dieser Maßnahmen, deren Aufhebung von der Mehrheit der Staaten in der UN-Vollversammlung wieder und wieder gefordert und immer wieder von den reichen westlichen Staaten – auch Deutschland – abgelehnt wurden, lasteten sie dem syrischen Präsidenten Bashar al-Assad an.“

Karin Leukefeld weiter: „Nun also erklären besagte Medien der Öffentlichkeit, dass Dschihadistengruppen Damaskus erobert und das ‚Assad-Regime‘ gestürzt hätten. Vierzehn Jahre lang habe Baschar al-Assad ‚sein halbes Land zerstören‘ lassen, ‚um an der Macht zu bleiben‘, heißt es in einer deutschen Tageszeitung. ‚Am Ende brauchten die Rebellen dann zehn Tage, um sein ausgehöhltes Regime zu stürzen‘, so der Vorspann des Artikels, der die Überschrift trägt: ‚Die Nacht, als der Diktator floh.‘“ 

Rückzug der Streitkräfte, Armee und Polizei von Assad angeordnet

Tatsächlich sei Damaskus nicht „erobert“ worden, sondern die Bewohner der syrischen Hauptstadt hätten die Kampfverbände hereingelassen. Armee und Polizei, so Karin Leukefeld, seien angehalten gewesen, keinen Widerstand zu leisten und sich zurückzuziehen. Die Bevölkerung der Stadt sei, um abzuwarten, schon seit dem Vortag zu Hause geblieben. Der syrische Präsident Baschar al-Assad hatte nach direkten und indirekten Gesprächen mit arabischen Golfstaaten (Vereinigte Arabische Emirate, Saudi-Arabien), mit der Türkei, Jordanien, Irak, mit Iran und Russland seine Chancen abgewogen. Um erneutes Blutvergießen zu vermeiden, habe er den Rückzug der Streitkräfte, von Armee und Polizei angeordnet und damit sehr verantwortungsbewusst gehandelt. Für sich und seine Familienangehörigen habe Assad den Weg ins Exil gewählt.

Von allen Seiten stand Assad unter Druck

„Vermutlich hatte Assad keine Alternative“, berichtet Karin Leukefeld. „Von allen Seiten stand er unter Druck, die wirtschaftlichen Probleme, die vor allem durch den Krieg und die EU/US-Sanktionen verursacht waren, konnte er nicht lösen. Am Abend des 8. Dezember stellte sich die Lage für außenstehende Beobachter so dar, dass der Präsident geht, die Regierung bleibt, um die Zerstörung der Ministerien und Institutionen zu verhindern und den politischen Übergang mit den Dschihadisten zu klären. Ministerpräsident Mohammad Ghazi al-Jalali ordnete an, dass die Ministerien besetzt bleiben sollten, und forderte demokratische Wahlen. Dschihadistenführer Abu Mohammad al-Jolani, der kurz vorher wieder seinen ursprünglichen Namen Ahmed Hussein al-Shar’a angenommen hatte, erklärte, Al-Jalili solle vorübergehend die Regierungsgeschäfte führen, bis eine Regelung für eine neue Regierung gefunden worden sei.“

Warum der Rebellen-Vormarsch so schnell ging

Der rasche Vormarsch der islamistischen Rebellen-Allianz sei kein Wunder gewesen, berichtet Karin Leukefeld. „Es gab die Anordnung des Präsidenten, keinen Widerstand zu leisten. Die Dschihadisten waren Berichten zufolge lange vorbereitet, die Kämpfer gut ausgerüstet, sie hatten Benzin für ihre Fahrzeuge und Motorräder und waren zudem von ukrainischen Kämpfern und Ausbildern mit großen Mengen Drohnen versorgt worden. Die Kampfverbände wurden von Journalisten, Fotografen und Videofilmern – auch westlicher Medien – begleitet. CNN verbreitete ein Interview mit dem geläuterten Jolani alias al-Sha’ra, der sich staatsmännisch gab. Insofern war der Dschihadistenvormarsch auch eine Medienshow, mit der entsprechende Bilder und Töne nahezu in Ist-Zeit, also live weltweit verbreitet wurde.“

Umsturz unterstützt seit 2011 von der Türkei, den arabischen Golfstaaten, USA, Großbritannien, Israel

Hier noch ein letzter Ausschnitt aus dem Leukefeld-Bericht: „Die Kampfverbände wurden von der Türkei und von arabischen Golfstaaten sowie von den USA, Großbritannien und Israel unterstützt. Und zwar nicht erst jetzt, sondern seit Beginn des Syrienkrieges 2011. Die Nusra Front, heute Hay’at Tahrir al Sham (HTS) – einst Ableger von al-Qaida in Syrien, die sich heute geläutert gibt – profitierte wie Dutzende bewaffnete Gruppen von dem geheimen CIA-Programm ‚Timber Sycamore‘. Damit wurden die bewaffneten Aufständischen ab 2012 nicht nur bewaffnet, es wurden auch Ausbilder geschickt, die die Kämpfer in den Waffen und in militärischem Vorgehen schulten. Das CIA-Programm, das der damalige US-Präsident Barack Obama genehmigte, wurde vom britischen Auslandsgeheimdienst MI6, dem MIT, dem türkischen Militärgeheimdienst und von Geheimdiensten der arabischen Golfstaaten unterstützt. Letztere waren vor allem auch für die Finanzierung zuständig.“

Das Fazit in einem Satz

Ihr Fazit fasst Karin Leukefeld in einem Satz so zusammen: „Syrien wurde absichtlich zerstört. Weil es sich weigerte, sich den geopolitischen Interessen der USA zu unterwerfen.“

Freie Bahn nun für den Bau der Katar-Türkei-Gasleitung durch syrisches Gebiet?

Umfassendere noch und noch mehr erhellende Details über den Ablauf und Hintergrund des Umsturzgeschehens übermittelt „Uncut-News“, ein ebenfalls Schweizer Informationsportal. Dort ist im Bericht vom 11. Dezember (Autor: Pepe Escobar) unter anderem dies zu erfahren: „Auf der geopolitischen Ebene beseitigt der syrische Zusammenbruch Hindernisse für eine der zentralen Energiefragen der Region: den Bau der Katar-Türkei-Gaspipeline durch syrisches Territorium. Dieses Projekt, das Europa eine Alternative zu russischem Gas bieten sollte, hatte Assad einst abgelehnt, was Katar dazu veranlasste, den Krieg in Syrien mitzufinanzieren, um ihn zu stürzen. Doch auch wenn die Pipeline realisiert wird, ist es fraglich, ob wichtige Golfstaaten wie Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate bereit sind, Katars geoökonomische Vormachtstellung zu akzeptieren. Die Pipeline müsste saudisches Gebiet durchqueren, und Riad könnte sich inzwischen dagegen sperren.“

Iran war bereit, Assad zu helfen, der aber ignorierte dessen Warnungen

Assad habe weder Maßnahmen ergriffen, um den schleichenden Zerfall und Zusammenbruch der Syrischen Arabischen Armee (SAA) zu verhindern, noch etwas gegen die anhaltenden Bombardements Israels unternommen, die Syrien seit Jahren ununterbrochen träfen. Teheran sei bis zum letzten Moment bereit gewesen zu helfen: Zwei Brigaden hätten bereitgestanden, um nach Syrien verlegt zu werden, doch diese Verlegung hätte mindestens zwei Wochen gedauert. Den Mechanismus im Detail habe die „Fars News Agency“ beleuchtet: von der anhaltend fehlenden Motivation der syrischen Führung, die Terrorbrigaden zu bekämpfen, über Assads Ignorieren ernsthafter Warnungen des Obersten Führers des Iran, Ali Khamenei, seit Juni, bis hin zu weiteren Mahnungen iranischer Offizieller vor zwei Monaten, dass die HTS und ihre ausländischen Unterstützer einen Blitzkrieg vorbereiteten.

Iran: Assad wollte nicht wirklich an der Macht bleiben

Laut Angaben Irans: „Nach dem Fall von Aleppo wurde klar, dass Assad nicht wirklich an der Macht bleiben wollte. Daher begannen wir mit der Opposition diplomatische Gespräche und organisierten den sicheren Abzug unserer Truppen aus Syrien. Wenn die SAA nicht kämpft, riskieren wir auch nicht das Leben unserer Soldaten. Russland und die Vereinigten Arabischen Emirate hatten ihn zum Rücktritt überredet, sodass wir nichts mehr tun konnten.“Es habe jedoch keine russische Bestätigung gegeben, dass Assad zum Rücktritt gedrängt worden sei.

Assad nicht nur Täter, sondern auch Opfer gewesen

In der Rückschau ist Baschar al-Assad nicht nur Täter, sondern auch Opfer gewesen. Wie die „FAZ“ berichtet, hatten einige in Syrien auf eine bessere Zukunft gehofft, als Baschar al-Assad im Juni 2000 die Nachfolge seines verstorbenen Vaters antrat: „ein junger Augenarzt von 34 Jahren, in seinem Auftreten zurückhaltend, mit einer modernen Frau an seiner Seite.“ Der junge Assad habe einen Teil seiner Ausbildung in London absolviert und dort die zehn Jahre jüngere Asma kennengelernt, „eine in Großbritannien geborene Finanzanalystin mit syrischen Wurzeln, die mit ihrem offenen Haar die perfekte Projektionsfläche für jene Menschen war, die von einem fortschrittlichen Syrien träumten.“ Baschar hat nach „FAZ“-Angaben ein völlig anderes Leben im Blick gehabt, bis 1994 sein älterer Bruder Basil bei einem Autounfall ums Leben kam. Kurz darauf sei Baschar nach Syrien zurückbeordert worden, um sich anstelle des Bruders auf die Nachfolge seines Vaters Hafiz al-Assad vorzubereiten.

Hoffnungsträger Assad scheiterte an den alten „Eliten“

„In den ersten Regierungsjahren von Baschar“, so die „FAZ“, „schien es, als würde er manche Hoffnungen wirklich erfüllen. Er lockerte die Zensur und machte sich an die Modernisierung der verkrusteten Wirtschaft, die unter der jahrzehntelangen Herrschaft der sozialistischen Baath-Partei gelitten hatte. Doch wie so oft entfaltete die politische Öffnung schnell eine eigene Dynamik. Der Wunsch nach mehr wurde laut. Wann genau Assad die Hebel umlegte, ist im Nachhinein nicht leicht zu bestimmen – und auch nicht, ob er selbst es war oder das Machtkartell der alten Kampfgefährten seines Vaters, die weiter den riesigen Sicherheitsapparat des Landes kontrollierten. Jedenfalls zog das Regime die Zügel schnell wieder enger an. Die meisten wirtschaftlichen Reformen verliefen im Sande, weil die alten Eliten ihre Pfründe bewahren wollten. Als 2005 in Beirut der frühere libanesische Ministerpräsident Rafiq Hariri ermordet wurde, ebenfalls ein Hoffnungsträger für viele Menschen der Region, wurde bald offenbar, dass der syrische Sicherheitsapparat seine Hände im Spiel gehabt hatte“ („FAZ“ vom 9. Dezember 2024, Seite 3: „Vom Hoffnungsträger zum Blutherrscher. Viele verbanden mit Baschar al-Assad einst die Sehnsucht nach einem fortschrittlichen Syrien – es kam anders“).

Trotz Schreckensherrschaft des Assad-Regimes differenzieren

Die Gewaltherrschaft des Assad-Regimes soll hier gewiss nicht schöngeschrieben werden. Was von seinen Unterdrückungsmaßnahmen und aus seinen Gefängnissen berichtet wird, ist entsetzlich – siehe zum Beispiel die Schilderung vom berüchtigten Sednaya-Gefängnis „Der Schrecken in Assads Schlachthaus“ („FAZ“ vom 12. Dezember 2024, Seite 3), wo das Regime laut „FAZ“ „Tausende seiner Gegner organisiert zu Tode folterte“. Es geht nur um das Vermitteln zusätzlicher Informationen im Zusammenhang mit dem Umsturzgeschehen und was dem vorausgegangen ist. Danach ist Assad – seine Person, seine Politik – differenziert zu sehen.

Dieser Artikel erschien mit vielen weiteren interessanten Links zuerst auf dem Blog des Autors.


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