13. Dezember 2025
Menschen sind nicht formbar: Knockout im Kulturkampf
Warum die Linken am Ende gar nicht gewinnen können
von Ralf Blinkmann
Die Linken haben den Kulturkampf vorerst gewonnen. Wir kommen nicht umhin, das anzuerkennen. Aber ein Bewusstsein ist im Entstehen begriffen, dass sich an den politischen Verhältnissen nichts ändern wird, solange der Kulturkampf nicht angenommen und schließlich gewonnen wird. Dazu hat in hohem Maße Javier Milei beigetragen.
Die Linken sind mit dem Versuch, ihre Ideen praktisch umzusetzen, bereits an der Realität gescheitert: Ausnahmslos alle sozialistischen Experimente führten zur Verarmung breiter Bevölkerungsschichten und insgesamt 60 bis 90 Millionen Toten (das sagen vorsichtige Schätzungen). Trotzdem starben die Ideen nicht mit. Der Grund dafür ist, dass die Linken mit Antonio Gramsci den Kampf auf das Feld der Kultur verlagert haben und der daraus abgeleitete „Marsch durch die Institutionen“ seit den 1960er Jahren sehr erfolgreich war. Auch hat sich die Linke von Marx abgewendet und ihre Ideen über die „Frankfurter Schule“ bis zur „Postmoderne“ weiterentwickelt.
Gramscis Idee eines Kulturkampfes ist nicht marxistisch, weil für Marx der Motor der gesellschaftlichen Entwicklung die materielle Basis der Gesellschaft ist und eben nicht der Überbau. Kultur ist bloß Reflex und Instrument der herrschenden Klasse, um ihre Interessen zu sichern. Also musste sein strenger Materialismus aufgegeben werden, um die praktische Erfolglosigkeit seiner Ideen zu erklären. Die herrschende Klasse musste auf dem Feld angegriffen werden, auf dem sie sich vermeintlich verteidigen konnte. Ideen, Sprache und Werte werden nun als Machtmittel erkannt.
Mit der Umkehrung der gedachten Ursache-/Wirkungsbeziehung von „materielle Verhältnisse ändern Bewusstsein“ zu „Bewusstsein ändert materielle Verhältnisse“ schleicht sich wieder die Vorstellung getrennter Sphären von Materie und Geist ein, die Marx abgelehnt hatte. Gramsci meint aber, es seien dennoch keine getrennten Sphären, weil sie miteinander „dialektisch“ wechselwirkten. Das bedeutet, dass einerseits kein Geist ohne Materie existieren könne, aber auch keine Materie ohne Geist.
Diese Vorstellung führt nun faktisch (logisch folgt das nicht) zu der Annahme, dass alles, was den menschlichen Geist ausmacht, insbesondere durch die soziale Umwelt in diesen eingeschrieben wird und so auch den Körper definiert. Michel Foucault ist da besonders prägnant, wenn er den Körper als „Produkt und Zielpunkt von Machtverhältnissen“ betrachtet. Implizit wird John Lockes Idee „Der menschliche Geist ist bei der Geburt ein unbeschriebenes Blatt; alles Wissen stammt aus Erfahrung“ übernommen. Direkt damit verbunden ist Jean-Jacques Rousseaus Idee vom „edlen Wilden“, der deshalb edel sei, weil seine soziale Umwelt noch nicht verdorben sei. Deshalb sind Ideen, Sprache und Werte Machtmittel. Der Mensch ist theoretisch beliebig formbar, nur kulturelle Hindernisse behindern seine Formung (zum Beispiel die Familie).
Die Vorstellung, dass der Mensch keine biologisch determinierte Natur hätte und somit im Prinzip beliebig formbar sei, hat George Orwell in seinem Roman „1984“ prägnant auf den Punkt gebracht. O’Brien zeigt vier Finger seiner Hand und fragt: „Wie viele Finger halte ich hoch, Winston?“ Die Antwort „vier“ wird brutal bestraft, weil O’Brien nicht nur will, dass Winston „fünf“ sagt, sondern auch fünf Finger sieht, was sich aus seiner Erklärung ergibt, dass Wahrheit nicht objektiv existiere, sondern nur das gelte, was die Partei sage. Die Vorstellung eines Menschen, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden, basiere auf einer falschen Annahme über die Realität.
Empirisch ist diese Idee bereits widerlegt. Die Neurowissenschaften zeigen, dass Bewusstsein, Denken und Fühlen mit physikalischen Prozessen im Gehirn korrelieren. Die meisten (automatischen) Aktivitäten des Gehirns sind lebensnotwendig, führen aber nicht zu Bewusstsein, Denken und Fühlen, das heißt, es gibt Materie ohne das, was wir gemeinhin „Geist“ nennen. Es gibt keinen Ort des Bewusstseins im Gehirn, dieses ist aber trotzdem ans Gehirn gebunden.
Dafür gibt es nur eine Erklärung: Körper und Geist sind eins, Geist tritt nicht zum Körper hinzu, Geist ist Körper. Das Libet-Experiment zeigt zudem, dass eine bewusst getroffene Entscheidung nicht die Ursache einer Handlungsplanung ist (wenngleich sie diese modifizieren oder abbrechen kann), was bedeutet, dass der Körper dem Geist vorangeht, sowohl funktional als auch evolutionär.
Die bedeutsamsten empirischen Belege kommen aber aus der Verhaltensgenetik und der Evolutionspsychologie. Sie besagen, dass unser menschliches Sein in hohem Maße (epi-) genetisch beeinflusst ist, der Mensch also nicht als unbeschriebenes Blatt (tabula rasa, blank slate) zur Welt kommt.
Eine inzwischen sehr große Anzahl von Zwillings- und Adoptionsstudien kommt zu sehr ähnlichen Zahlen bezüglich der Heritabilität (Vererbbarkeit) von Persönlichkeitsmerkmalen wie Extraversion, Neurotizismus, Gewissenhaftigkeit, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit sowie Intelligenz. Der Psychologe Steven Pinker gibt als grobe Schätzung 50 Prozent Heritabilität an und hält deshalb die „blank slate theory“ für widerlegt. Das ist aber noch nicht alles, denn es bleibt die Frage, was die 50 Prozent Umweltfaktoren konkret sind.
Die Studien zeigen hier überraschenderweise, dass die nicht-geteilte Umwelt (im Wesentlichen die eigene Familie) einen sehr geringen Einfluss hat (zwischen null und zehn Prozent) und die Umwelteinflüsse im Wesentlichen auf die geteilte Umwelt (zum Beispiel Freunde, Lehrer) zurückgehen.
Wenn aber die Erziehung in der Familie, der Prototyp der „intentionalen Erziehung“, die Grundlage der Pädagogik, kaum Einfluss auf Persönlichkeit und Intelligenz hat, wie sollte man dann annehmen können, dass „intentionale Erziehung“ Einfluss in der geteilten Umwelt hat? Alles deutet darauf hin, dass fast alle Umwelteinflüsse „funktionale Erziehung“ sind.
Der Mensch ist also nur zu 50 Prozent „von außen“ formbar und das fast gar nicht intentional. Es ist aufgrund unserer Biologie unmöglich, einen „neuen Menschen“ zu formen. Wir sind alle verschieden und einzigartig. Wir haben eine Natur. Wir sind in einem biologischen Sinne Individuen.
Die Studien des Evolutionspsychologen Michael Tomasello zeigen, dass „rationale Akteure“, das sind auf ihre eigenen Ziele ausgerichtete Individuen, evolutionär den „normativen Akteuren“, das sind solche, die ihre Ziele sozial mit anderen Individuen abstimmen, vorangehen. Wir sind zuerst Individuen und beginnen aus dieser Position heraus zu kooperieren (die älteren evolutionären Schichten bleiben stets beteiligt). Das Individuum geht der Gemeinschaft evolutionär voraus. Es ist aber auch unsere Natur, zu kooperieren.
Die Tatsache, dass der Mensch eine Natur hat, bedingt seine individuellen Unterschiede. Gleichzeitig bedeutet das aber auch, dass es menschliche Universalien gibt, die nicht änderbar sind. Pinker veröffentlicht in seinem erwähnten Buch eine lange Liste solcher Universalien, von denen ich hier nur Sprache, Selbstkontrolle, Ästhetik, Ambivalenz, spekulatives Denken, Kultur, Tanz, Neid, Gesichtskommunikation beispielhaft herausgreifen will. Es gibt also nicht nur potenziell inkompatible Kulturen, sondern auch Eigenschaften, die allen Menschen gemein sind.
Das ist ein wichtiges Gegenargument gegen alle Formen von Tribalismus und Identitätspolitik. Zu diesen Universalien gehört auch, dass die Welt kausal interpretiert wird (das können laut Tomasello alle Säugetiere) und dass die Menschen sich wechselseitig als handelnde Wesen wahrnehmen (was die Grundlage der Ökonomie von Ludwig von Mises ist).
Die Tatsache, dass der Mensch eine Natur hat, bedeutet, dass er nicht intentional formbar ist. Wenn aber der Mensch nicht formbar ist, ist es eine schlechte Idee, die Gesellschaft formen zu wollen, wenn man sich ihrer natürlichen Grundlagen nicht bewusst ist. Für „intentionale Erziehung“ gibt es kaum Raum. Das, was Friedrich August von Hayek „Konstruktivismus“ nennt, ist ein Hirngespinst.
Mensch und Gesellschaft sind nicht intentional formbar. Deshalb wird der linke Kulturkampf scheitern. Unklar bleibt nur, wie viel Schaden er zuvor noch anrichtet.
Information
Diesen Artikel finden Sie gedruckt zusammen mit vielen exklusiv nur dort publizierten Beiträgen in der am 28. November erscheinenden Dezember-Ausgabe eigentümlich frei Nr. 258.
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