16. November 2025
Geschichte eines Ehepaars: Zwischen Repression und Republikflucht
Über wiederkehrende Erfahrungen in einer deutschen Diktatur
von Günter Scholdt
Peter Niebergall hat einen Band über sein früheres Leben in der DDR und seine von Stasi-Verfolgung und Haft geprägte Ausreise verfasst, der künftig sogar eine Fortsetzung über manch prekäre Erfahrung in der Bundesrepublik erhält. Insgesamt liegt hier die Bilanz einer deutschen Politikexistenz vor, deren Umfang sich vornehmlich angesichts der inzwischen verbreiteten Ahnungslosigkeit über das rechtfertigt, was seinerzeit den Alltag in einer Diktatur bestimmte und was uns heute durch falsche Lehren aus der Vergangenheit wieder droht.
Da fast alle meine Verwandten in der DDR lebten, war mir zwar die dortige vermeintliche soziale „Herrlichkeit“ vertrauter als etlichen linken Schwärmern in Westdeutschland, dennoch verdanke auch ich der Detailfreude des Autors manche neue Einsicht über gängige Abläufe oder Atmosphärisches. Anhand zahlreicher Beispiele täglicher Zumutungen werden die Ursachen klarer, die das DDR-Zwangssystem schon vom Grundsatz her hoffnungslos effizienzfeindlich und strangulierend werden ließ. So wird überdeutlich, wie sich der Freiheitswunsch zweier Außenseiter konkret buchstabierte und aus welchem Motivbündel sich letztlich der schmerzliche Entschluss des Ehepaars Niebergall zusammensetzte, ihre Heimat zu verlassen.
Zur Gattung des Buchs sei vorab gesagt: Hier konkurriert kein debütierender Romancier hinsichtlich literarischer Ambitionen oder Darstellungsqualitäten mit belletristischen Profis wie Walter Kempowski, Erich Loest oder Uwe Tellkamp. Es geht auch nicht um die Widerstandsbiographie prominenter DDR-Dissidenten oder -Renegaten wie Wolf Biermann, Wolfgang Harich, Robert Havemann, Rudolf Bahro oder Angelika Barbe. Dessen war sich der Verfasser stets bewusst, spricht er doch an einer Stelle sogar ausdrücklich davon, im Kontext der generellen DDR-Justizposse mit seiner Frau nur „Nebenrollen“ zu besetzen.
Umso informativer ist der Text hinsichtlich der Praktiken, wie die DDR mit Nonkonformisten ohne größere Bekanntheit verfuhr. Darüber formten Niebergalls Erinnerungen ein anschauliches Sachbuch mit Pep. Wir erfahren aus erster Hand von der Entfremdung eines Ehepaars von einem Staat, dem die beiden zunächst nicht feindlich gesinnt waren, dessen innere Widersprüche und Zwänge jedoch den kühnen Wunsch festigten: „Wir wollen weg.“ Ihr Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR eröffnete dann folgerichtig einen Sanktionsmechanismus, der in Inhaftierung und Gerichtsurteilen gipfelte, bevor sie durch die Bundesrepublik freigekauft wurden.
Die ausführliche Chronik eines politischen Abschieds bietet zugleich einen Crashkurs für alle, die sich die Illusion bewahrten, man habe in der DDR den Sozialismus nur mit falschen Mitteln oder Leuten praktiziert. Oder die sich von Staatswirtschaft mehr versprechen als gigantische, durch (Meinungs-) Despotie gestützte Ressourcenverschwendung. Entstanden ist zudem ein Buch, das sämtlichen Ostbeauftragten der Bundesregierung als Pflichtlektüre verordnet werden müsste. Als heilendes Serum gegen die Arroganz, mit der etwa ein ehemaliger Amtsträger wie Marco Wanderwitz über ihm offenbar wenig bekannte Menschen urteilte respektive pöbelte.
Sie könnten daraus lernen, wie durch Erfahrungen in einem solchen Regime die Skepsis gegenüber Staat und Medien vernünftigerweise tief verankert wurde. Anders formuliert: welchen Aufklärungsvorsprung einstige DDR-Bürger in Sachen konformer Medien meist ahnungslosen Wessis gegenüber haben, die sich aus vorstellungsschwacher Indolenz einer besseren Unterrichtung durch alternative Quellen freiwillig verweigern. Eine bedauerliche Erkenntnis-Reduktion, insbesondere angesichts der zunehmenden DDR-isierung Gesamtdeutschlands. Das Buch liest sich als Modell für Massenverhalten in einer Als-ob-Gesellschaft ohne echten Spielraum zur Entfaltung produktiver Kräfte und im Kontrast dazu als Anstoß für das couragierte Abstreifen einer uneigentlichen Existenz.
Zur Lage in der DDR um 1980
Niebergalls ausführliche Berichte helfen uns, sein biographisches Milieu besser zu verstehen, einen Staat, der die öffentlichen Belange monopolisierte und die Art, sich am Diskurs zu beteiligen, administrativ-polizeilich begrenzte. In der Regel mit nachhaltiger Wirkung, obwohl es auch private Nischen und Solidaritätszirkel gab, die nie gänzlich infiltriert werden konnten. Grundsätzlich erforderte eine unbehelligte Existenz in diesem Land jedoch ein Mindestmaß an täglicher Zustimmungsheuchelei beziehungsweise uneigentlichem Sprechen, meist im Bewusstsein, dass jeder nicht ganz vor den Kopf Geschlagene wusste, wie es tatsächlich war.
Vom Kindergarten und von der Schule über Wehrdienst, Beruf und Studium bis hin zu Mitgliedschaften in diversen gesellschaftlichen Organisationen führte man ein durchprogrammiertes Leben, in das selbst Teile der Freizeit einbezogen waren. Auch jenseits der spezifischen Überwachungsbehörden ergab sich eine weithin totale Kontrolle, zumal es, von der Wohnungsbeschaffung über den Bezug bestimmter Waren bis zu Studienplätzen und Urlauben, überall staatliche Eingriffsmöglichkeiten gab. Auch wer sich zum Beispiel nicht an der Jugendweihe beteiligte, weil er christlich gebunden war, musste damit rechnen, dass sich selbst kirchliche Unterweisung teils nur in kollaborierenden Formen vollzog.
Da sich die sozialistische Gesellschaft über Arbeit definierte und zudem beanspruchte, den entfremdeten Menschen über die Befriedigung elementarster Bedürfnisse hinaus zur Teilhabe an den geistig-kulturellen Errungenschaften zu befähigen, kam dem wirtschaftlichen Ertrag eine Schlüsselrolle zu. Doch in praxi war die Bevölkerung, verglichen mit westlichen Standards, weithin unterversorgt. Drastisch ausgedrückt, herrschten in der seinerzeit von westdeutschen Politologen zu einer der weltweit bedeutendsten Wirtschaft emporgejubelten DDR noch in den 1970ern zuweilen Verhältnisse wie in einem Entwicklungsland. Zu den auch von mir nicht annähernd erahnten Details gehörte der Zustand der Wohnungen des Ehepaars – er immerhin diplomierter Meliorations- alias Agraringenieur, sie Augenärztin –, bessere Wohnlöcher, die man im heutigen Deutschland keinem frisch Immigrierten zum Aufenthalt anbieten dürfte und damals auch nicht den ärmsten Bewohnern der Bundesrepublik.
Hinzu kam eine spezifische Paradoxie, verursacht dadurch, dass grundsätzlich allen Höherqualifizierung verheißen wurde, was zu einer relativen Akademikerschwemme mit Niedriglöhnen führte. Besonders da manche Handwerker, um überhaupt (zeitnah) tätig zu werden, privat noch ihr „Bakschisch“ erwarteten. Ein Diplomingenieur mit fünf Berufsjahren verdiente kaum mehr als ein 18-jähriger Teilfacharbeiter. Und die privaten Versorgungswege über Westgeld oder sonstige Einkaufsbezugsquellen, die einer überbewerteten Ostmark den Rang abliefen, zeigten die doppelmoralischen Aspekte scheinbarer Erfolgsbilanzen.
Angesichts einer solchen real existierenden Versorgungslage, die für DDR-Bewohner zahlreiche Wünsche offenließ, lässt sich nachvollziehen, wie dort die zynische Geste des bundesrepublikanischen Spitzenpolitikers Otto Schily (SPD) aufgenommen wurde, hielt der doch, um die für ihn ungeliebte CDU-nahe Wahlentscheidung zur Volkskammerwahl zu kommentieren, im Fernsehstudio spektakulär provozierend eine Banane hoch. Wie schnöselhaft erhaben gab sich dieser im Luxus schwelgende Politiker über materielle Motive von DDR-Wählern. Es ist solche Arroganz, die bis heute als Teil einer innerdeutschen Entfremdung nachwirkt.
Natürlich trug die DDR durch den Zugriff der Sowjetunion ein viel schwereres ökonomisches „Packerl“ als Westdeutschland, dessen Wirtschaft bald nicht mehr systematisch ausgeplündert wurde und von daher ganz anders prosperieren konnte. Noch verheerender wirkte sich allerdings die ideologische Knebelung aus, die nicht einmal offen benannt werden durfte. Insofern zerschellten zahlreiche Reformvorschläge an den tatsächlichen Widersprüchen, zumal ständig auf unökonomisch-ideologische Faktoren oder Funktionärsinteressen Rücksichten genommen werden musste. Wer Niebergalls penible Schilderungen verfolgt, wird per anschaulichem Nachvollzug zum Spezialisten für die Ineffizienz einer sozialistischen Plan- und Misswirtschaft inklusive täglicher Grotesken, die jene wortreich verschleierten. Als schlagendes Beispiel genereller Fassadenhaftigkeit bloß proklamierter Ziele dient der (aus Kostengründen fast inexistente) Naturschutz, für den immerhin ein Ministerium projektiert worden war.
In solchem Circulus vitiosus erschöpfte sich die Kreativität der Planer und Ingenieure weitgehend in erfinderischen Nothilfen eines aufwendig verwalteten Mangels. Dazu gehörten einfallsreiche, meist illegale Tricks, um den schlechterdings nicht einhaltbaren Vorschriften dennoch zu genügen. Stellvertretend galt dies für Umgehungen der Benzinspar-Vorgaben. Andererseits illustrierten tumultartige Aufläufe vor Buchläden, wenn tatsächlich mal etwas abseits der üblichen Ramschware angeboten wurde, die Misere. Zudem war ausgerechnet in den angeblich allen gehörenden Betrieben Diebstahl an der Tagesordnung, gemäß dem DDR-Slogan: „Geklaut wird alles, außer glühendem Eisen und Gegenständen, die über vier Zentner wiegen.“ Die regelmäßigen Mitnahmen aus den Firmen, schreibt Niebergall, wertete man fast als „Deputat“. Einem Bonmot zufolge müsse man elf Häuser planen, wenn zehn gebaut werden sollen.
Zum Biographischen
Zur ökonomischen Misere und der allerorten beschränkten Freiheit kam also noch der Umstand hinzu, dass selbst größte Anstrengung unter solchen Bedingungen zwangsläufig nur zu einer unbefriedigenden Berufsexistenz führen konnte. Und irgendwann hatte sich zu viel aufgestaut, sodass das Ehepaar Niebergall den folgenschweren Entschluss zur Ausreise fasste. Welche Schwierigkeiten und Bedenken beide lange von diesem Schritt abgehalten hatten, verdeutlicht die Episode, in der die Eltern endlich in den Plan eingeweiht wurden – eine der wenigen Stellen, in der die durchweg sachliche Diktion stärkere Emotionalität zulässt. Bemerkenswert ist auch, wie lange man brauchte, um das Vorhaben tatsächlich in Gang zu setzen. Ab 1978 wurde die Ausreise konkret vorbereitet. Bei der generellen Uninformiertheit im Lande erforderte es allein ein halbes Jahr, lediglich zu erkunden, wie dies per Antrag umzusetzen sei. Am 1. Dezember 1981 war es so weit, dass der erste Ausreiseantrag gestellt werden konnte, worauf das Regime seine repressiven Krallen ausfuhr.
Über diese Vorgänge werden wir detailliert unterrichtet, zudem über diverse Versuche einer emotionalen Vorbereitung auf die zu erwartende Prozedur. Selbstverordnete Sprachkurse etwa sollten dem Abbau innerer Spannungen dienen. Weil noch keine konkreten administrativen Schritte erfolgt waren, nahmen beide im Sommer 1983 an einer stummen Demonstration von Ausreisewilligen in Jena teil. Ein eskalierender Versuch, sich als zu bearbeitende Fälle bemerkbar zu machen. Jetzt ging es schnell mit Verhaftung, Untersuchungshaft, Verurteilung und Strafvollzug. Am 16. Februar 1984 schließlich nahm alles einen glücklichen Ausgang mit der Abschiebung in die Bundesrepublik. Nebenbei gesagt: ein Datum, das durch Orwells Roman seine symbolische Pointe besitzt.
Zuvor jedoch erhalten wir einen plastischen Eindruck vom Gefängnisalltag, sinnfällig charakterisiert durch eine auch nachts nie ganz ausgeschaltete schlafstörende Beleuchtung, „Knastmond“ genannt. Wir lesen von der generellen Hatz bei allen Verrichtungen, vom Duschen bis zum Kleiderempfang, von unwürdigen Leibesvisitationen und nur unregelmäßig verteilter oder abgeschickter Post. Absurde Vorschriften begleiteten den täglichen Trott. (Nächtlicher) Zigarettenqualm in schlecht gelüfteten Sammelräumen kam hinzu. Das zuweilen bewusst Sinnwidrige oder Schikanöse gehörte zu den Herrschaftstechniken, die manchen noch nachträglich von Ausreisewünschen Abstand nehmen ließen. Nicht zu vergessen gewisse Knasthierarchien, in denen nichtpolitische Knackis per Ämtervergabe und Faustrecht im Vorteil waren. Auch Tätowierungen setzten Zeichen.
Gruppendynamische Prozesse finden des Autors besonderes Interesse. Darunter als Gegengewicht zum Bedrückenden zuweilen solidarische Hilfen und Tricksereien, dazu „Spannerschaften“, das heißt Häftlings-Interessengemeinschaften. Wichtig für die Erhaltung der seelischen Gesundheit waren kleine Freuden durch selten gewährte Briefe oder die Aufbesserung des Speiseplans, wenn der Zukauf von Nahrung tatsächlich genehmigt oder geliefert wurde. Es befriedigte, wenn das Foto der Ehefrau nach anderen nicht genehmigten Versuchen mit einem Pfeifenreiniger am Bett befestigt werden durfte oder wenn ein heimlich als Tischdecke genutztes Taschentuch an frühere Zivilisationsstandards erinnerte.
Aufmunternd wirken auch kleine Resistenzgesten. So wurden etwa Bücher der Gefängnisbibliothek durch versteckte Markierungen von Freiheitsbotschaften glossiert, welche die Vollzugsbeamten dann wiederum pedantisch zu beseitigen hatten. Zur Verständigung über Zellen hinweg dienten spezifische Zuchthaus-Morsezeichen oder illegal in den Zellen erwärmte Speisen. Zu periodischen, wahrhaft abenteuerlichen Höhepunkten gerieten hochriskante Zubereitungen der „Dröhnung“, eines berauschenden Tranks aus Schwarztee und Medikamenten, hergestellt mittels eines selbstgebastelten Tauchsieders. Niebergall selbst setzte eher auf Beschwerden oder Gespräche, um die administrative Willkür ein wenig zu mildern, was gelegentlich gelang. In einer bemerkenswerten Episode wurde auf konsequenten Einspruch hin tatsächlich eine fehlende Scheibe Bierschinken nachgeliefert. Solche Beharrlichkeit galt dem Autor als exemplarische Tugend, und diesbezügliche Schilderungen tragen stets Appellcharakter, nicht vorschnell aufzugeben.
Stil und Tendenz
Die jeweiligen Szenen werden lebendig ins Bild gesetzt. Beobachtung reiht sich an Beobachtung, wobei vieles anekdotische Funktion erhält. Der Stil ist sachlich, akribisch, um protokollarische Genauigkeit bemüht, zuweilen sogar ein wenig bürokratisch durch indirekte Rede beglaubigt. Jeder zu beringende Bolzen, jede Schraube oder Rolle im Arbeitsprozess wird exakt beschrieben. Anhand geschilderter zerschundener Hände können wir nachvollziehen, dass (zumal für Neulinge) die jeweilige Norm fast nicht zu erfüllen war. Zuweilen blitzen Mutterwitz, Humor und Ironie auf. So etwa, wenn die Wiesel-Talente der Küchenschaben oder die Qualität der Gefängniskost erörtert werden: „Das Mittagessen fiel oft qualitativ und quantitativ so aus, dass man sich mit einer zusätzlichen Bockwurst nicht gerade den Magen verdorben hätte.“
Neben Präzision steht Authentizität als Devise über jeder Textzeile. Denn Niebergalls Erinnerungen sind nicht durch Übertreibung stilisiert oder auf Effekt hin verfasst. Selbst Stasi-Leute, Bewacher oder Vernehmer geraten nicht zu bloßen Pappfiguren des Staatsterrors, erwähnt er doch immer mal wieder kleine Menschlichkeiten: einen verständigen Wärter, der ausnahmsweise das schlafstörende Licht ausknipste, oder einen freundlichen Vollzugsbeamten, der dem Inhaftierten von sich aus die fehlenden Figuren zum Dame-Brett lieferte.
Die Honecker-Jahre in der DDR unterschieden sich schließlich, falls man im Stasi-Sinne nicht zu viel auf dem Kerbholz hatte, von den unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnten, wie sie Kempowskis „Im Block“ illustriert. Von KZ-Bedingungen oder dem, was von Bautzen erzählt wird, waren die Gefängnisaufenthalte des Ehepaars Niebergall schon deutlich geschieden. Nichtsdestotrotz blieben die grundsätzliche Rechtlosigkeit und die heftigen Staatsreaktionen, wenn man nur elementare Freiheitsrechte einfordern wollte, empörend. Auch kennzeichneten den Gefängnisalltag zuweilen immerhin (schwer bestrafte) Selbstmordversuche oder Selbstverstümmelungen, um der Akkordschufterei zu entgehen.
Um phrasenlose Genauigkeit bemüht, enthält sich Niebergalls Lebensbericht persönlicher Märtyrergesten ebenso wie schroffer Verdammungsurteile über Angepasste. Kein Bilderbuch-Heldentum wird beschworen, obwohl das Paar zweifellos als imponierendes Beispiel für über Jahre gezeigten Mut und Beharrlichkeit dienen kann. Stattdessen wird die allmähliche Entwicklung zur nonkonformistischen Persönlichkeit plausibilisiert. Ausgehend von jener Frühepisode, als der Autor in Prag durch den Einmarsch der Sowjets schlagartig zu politischem Denken erwachte. Doch natürlich war der Jugendliche in all seiner Naivität und Ratlosigkeit überfordert, als sich ihm plötzlich die (später so betrauerte) Chance bot, die DDR zu verlassen.
Auch fehlt es im Text nicht an Hinweisen, wann der Verfasser Konzessionen ans Regime für erforderlich hielt. So etwa, als er sich aus taktischen Gründen genötigt sah, in den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund einzutreten respektive nach eigenen Worten „zu Kreuze kroch“. Auch im Studium war allen schnell klar, welche Urteile in Sachen Marxismus gefällt werden konnten und welche nicht. Und im Gefängnis nahm man bald Abstand von der grundsätzlich möglichen Arbeitsverweigerung, weil sonst elementare Vergünstigungen wie gelegentlicher Briefempfang oder Ernährungsverbesserungen entfielen.
Nur „olle Kamellen“? Zur aktuellen Nutzung des Buchs
Saubere Erinnerung und historische Bilanzen tragen ihren Wert in sich. In diesem Fall reicht der pragmatische Nutzen solcher Lektüre jedoch weiter bis in die unmittelbare Gegenwart. Schließlich wäre nichts naiver als die Annahme, dass sich die Zustände der 1980er-DDR von unseren heutigen kategorial unterschieden. Auch wir haben in Deutschland mittlerweile eine inkompetente Führungsschicht mit typischen Deformationen einer Machtclique, die mit klassischen demokratischen Mitteln kaum noch zur Kursänderung oder gar zum Abtreten gezwungen werden kann.
Auch unsere einstige Hochleistungsindustrie, die stets im Zentrum unseres Selbstbewusstseins als Nachkriegsgesellschaft stand, hat ihren Spitzenplatz im internationalen Vergleich längst eingebüßt. Und man lacht inzwischen sogar weltweit über Grotesken wie den jahrzehntelangen Flughafenbau in Berlin. Unsere Staatsquote liegt längst über 50 Prozent mit steigender Tendenz, womit wir immer höher Besteuerte uns zunehmend Verhältnissen nähern, deren negative Lenkungseffekte an sozialistische Staatswirtschaft erinnern. Wir leiden an kaum zu verantwortender Umverteilung von dreistelligen EU- wie EEG-Milliarden oder billionenschweren ideologischen Geldverbrennungsaktionen. Die Sorge einer Hochinflation oder eines Staatsbankrotts haben unsere Macher offenbar aus den Augen verloren, wie jüngst die handstreichartige parlamentarische Beerdigung der Schuldenbremse zeigte.
Um gewisse Arzt-Termine zu bekommen, brauchen manche ein Jahr, während nicht einmal Eingebürgerte, ohne je in die Kassen gezahlt zu haben, wie am Fließband medizinisch saniert werden. Wir kennen für bestimmte Waren wieder lange Wartezeiten beziehungsweise Vorratshaltungen. Und das durch chronische Unberechenbarkeit gekennzeichnete „Travelling with Deutsche Bahn“ bietet Satirikern reichhaltigen Stoff. Ökonomische Strangulierungen durch das Lieferkettengesetz, CO2-Ablasszahlungen, (quotenmäßiger) Gender-Unfug, Lockdowns und die Strukturfolgen einer überaus kostspieligen Massenimmigration tun ein Übriges, den Wirtschaftsstandort Deutschland nachhaltig zu schwächen.
Und schlimmer noch: Diese und viele andere Missstände sollen möglichst nicht thematisiert, sondern durch Zensur, administrativen oder „zivilgesellschaftlichen“ Zwang vor der Öffentlichkeit verborgen werden. Schließlich hat auch unsere zynisch durchregierende sogenannte „Elite“ Angst vor dem Volk, auf das sie trotz eindeutiger Wahl-Signale partout nicht mehr hören will. Auch unser (eurokratisches) Establishment weist harsche Betreuungssyndrome orwellscher oder schwabscher Prägung auf, erleben wir doch täglich, wie obrigkeitliche Bevormundung, Bespitzelung, „gutmenschlicher“ Tugendterror, zivilreligiöse Denkverbote, sprachpolitische Gehirnwäsche und Rechtsverlust Konjunktur haben.
Die daraus resultierende Duckmäuserei erduldet ein Volk, das sich laut Umfrage bei heiklen Themen zu zwei Dritteln bewusst ist, nicht folgenlos seine Meinung sagen zu dürfen. Das man von einer aufbauschenden Katastrophenschau in die nächste hetzt, wobei viel gravierendere Probleme vor der Haustür aus dem Fokus rücken, gelenkt durch rund um die Uhr betriebene Angstkampagnen cleverer Agitatoren, eingebetteter Medien, Intellektueller, Künstler oder akademischer Clerks. Als klassische Regierungsanmaßung wird „Hass und Hetze“ verfolgt, was schon terminologisch peinlicherweise an einen DDR-Straftatbestand erinnert. Zudem darf man, gerichtlich abgesichert, als neutralitätsverpflichtetes Staatsoberhaupt zum Kampf gegen die Opposition aufrufen.
Auch wir kennen mittlerweile eine politische Justiz, die tatsächlich Oppositionellen immer weniger Chancen vor Gericht lässt. Exemplarisch die Höcke-Urteile in Sachen „Alles für Deutschland“ oder die des Weimarer Amtsrichters, der in Sachen Corona unerwünscht entschied. Strafbefehle und Hausdurchsuchungen aus den läppischsten Anlässen sind an der Tagesordnung, wo sich Amtsträger aufführen, als stünde ihnen Schutz gegen Majestätsbeleidigung zu. Politischen Gegnern werden Jagdwaffen verwehrt. Und wenn es für Alternative frühmorgens beim Klingeln nicht mehr unwahrscheinlich ist, dass statt des Milchmanns Träger von Polizeimützen und Schlapphüten ins Haus eindringen, dann lebt man in welcher Staatsform?
Auch an unseren Schulen und Hochschulen weiß man oder frau mittlerweile ganz genau, welcher woke Gesinnungs-Kotau für gute Noten zu erbringen ist. Und auch hierzulande neigt man inzwischen zu Schüler-Pflichtbesuchen in KZs. Besondere Pietät oder Sensibilität ist hierfür nur Vorwand. Weiß man doch seit Jahrzehnten, wie erfolgreich sich jegliche ernstzunehmende Politkonkurrenz durch skrupellose Instrumentalisierung der NS-Vergangenheit desavouieren lässt. Kurz, man staunt immer wieder über den Weitblick der DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley, die, durch Unterdrückungserfahrung geschult, bereits im Frühjahr 1991 prophezeite: „Die gründliche Erforschung der Stasi-Strukturen, der Methoden, mit denen sie gearbeitet haben und immer noch arbeiten, all das wird in die falschen Hände geraten. Man wird sie ein wenig adaptieren, damit sie zu einer freien westlichen Gesellschaft passen. Man wird die Störer auch nicht unbedingt verhaften. Es gibt feinere Möglichkeiten, jemanden unschädlich zu machen. Aber die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen, glaubt mir. Man wird Einrichtungen schaffen, die viel effektiver arbeiten, viel feiner als die Stasi. Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.“
Solche Klarsicht hängt von Voraussetzungen ab, die der brillante Aphoristiker Michael Klonovsky schon vor Jahren benannte. Ihn wundere an unserer aktuellen Misere nur wenig, denn er komme schließlich aus der DDR. „Das könnte möglicherweise heißen: Ich komme aus der Zukunft.“ Auch für Peter Niebergall gilt dies und seine stets gewachsene Einsicht, unsere real existierende Postdemokratie biete für Überheblichkeit gegenüber DDR-Bewohnern wenig Anlass. Es gibt also zahlreiche gute Gründe, sein Buch als diagnostische Hilfe zu lesen, zumal wir hierzulande wahrlich keinen Überfluss an charakterstarken Nonkonformisten haben.
Information
Diesen Artikel finden Sie gedruckt zusammen mit vielen exklusiv nur dort publizierten Beiträgen in der am 24. Oktober erscheinenden November-Ausgabe eigentümlich frei Nr. 257.
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