28. September 2024

DeutschlandBrief Der Russe als Hunne mit Tankstelle

Über fragwürdige Feindbilder im Westen

von Bruno Bandulet

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Bildquelle: Lightspring / Shutterstock Beim Schulterschluss zwischen Moskau und Peking wird es sich um keine Liebesheirat handeln.

Attila, Dschingis Khan oder die große Spinne

Die Geschichte ist mehr als 100 Jahre alt und doch wieder sehr aktuell. Kaum war der Erste Weltkrieg ausgebrochen, lief die englische Kriegspropaganda auf Hochtouren. Die schon vor 1914 deutschfeindlichen Blätter „Times“ und „Daily Telegraph“ gruselten ihre Leser mit Berichten über deutsche Kriegsverbrechen. Die „war atrocities“ sorgten für Auflage. Und die Londoner Regierung beeilte sich, unter der Leitung ihres Ex-Botschafters in den USA, Lord Bryce, eine Untersuchungskommission einzurichten, die die schlimmsten Verbrechen erfand: Die deutschen Soldaten hätten in Belgien nicht nur Kinderhände abgehackt, sondern sie auch noch verspeist – eine Kombination von Sadismus und Kannibalismus. Bald waren die Deutschen nur noch „die Hunnen“. Eine Art von Kriegspropaganda, die dazu beitrug, die USA in den Krieg zu ziehen. Am 10. Januar 1918 erhoben sich die Abgeordneten des US-Kongresses zum gemeinsamen Gebet und baten Gott: „Entblöße Deinen mächtigen Arm und schlage zurück das große Pack hungriger wölfischer Hunnen, von deren Fängen Blut und Geronnenes tropft.“ Der Gegner wurde zum Menschheitsfeind, er musste vernichtet werden. Als die belgische Regierung 1922 die Behauptungen der Bryce-Kommission noch einmal untersuchen ließ, stellte sich heraus, dass alles erfunden war.

Sprung ins nächste Jahrhundert: Am 2. April 2024 erschien in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ein längerer Artikel mit dem Titel „Ein neuer Hunnensturm“. Autor war der in Tübingen lehrende Historiker Mischa Meier. Er beschrieb, wie die Hunnen Angst und Schrecken verbreiteten und wie sie erst 451 und 452 in Gallien und in Italien militärisch gestoppt werden konnten. Das hunnische Machtgebilde sei im Kern nichts anderes gewesen als eine Kriegerkoalition, die von Raub und Erpressung lebte – eine „strukturell bedingte“ Aggression, die sich durch Appeasement-Politik nicht habe einhegen lassen. Womit der gute Professor aus Tübingen bei seinem eigentlichen Thema angelangt war, dem „Raubstaat Russland“, mit dem es keine Lösung am Verhandlungstisch geben könne.

Weil Attila und seine Hunnen nicht genug sind, wird manchmal auch Dschingis Khan bemüht. So in einem neuen Buch von Jörg Himmelreich, der Russland zu einem asiatischen Land macht und Putin zu einem Erben des Mongolenherrschers Dschingis Khan. Auf die Idee kam vor ihm schon das „Wall Street Journal“. Im Juli 2018 druckte das Blatt eine Illustration, die Putin als Dschingis Khan abbildete, darunter die Zeile: „Russlands Rückkehr zu seiner asiatischen Vergangenheit“. Der linksliberale englische „Guardian“ wiederum ließ sich eine Karikatur einfallen, die eine auf der Weltkugel sitzende riesige Spinne mit menschlichem Kopf (auf der Stirn der Sowjetstern) zeigte. Eine nahezu identische Karikatur ließ Reichspropagandaminister Goebbels verbreiten, dazu mit der Feindbenennung: „Der Bolschewismus“. Damals sagte man nicht „die Russen“, sondern „der Russe“ – ein kollektives Stereotyp mit vorzugsweise mongolischen Gesichtszügen.

Wie Karl Marx Adolf Hitler vorwegnahm

Es ist kein Zufall, dass mit der Rückkehr des Kalten Krieges auch seine früheren Narrative wiederbelebt wurden. 1959 erschien im Würzburger Marienburg-Verlag der russophobe Klassiker „Das russische Perpetuum mobile“ von Dieter Friede. Es schilderte ausführlich und völlig zutreffend den Horror des Stalinismus, sah aber unter der Tünche des Kommunismus nichts anderes als den ewigen Russen. Russland sei seit Iwan dem Schrecklichen immer wieder gegen Europa angerannt „und in jedem Jahrhundert in Europa eingefallen“. Zitiert wird Karl Marx mit einem Artikel in der „Neuen Oder-Zeitung“ aus dem Jahr 1855. Der Panslawismus, hatte Marx geschrieben, lasse Europa nur eine Alternative: „Unterjochung durch die Slawen oder Zerstörung für immer des Zentrums ihrer Offensivkraft – Russlands“. Marx nahm Hitler vorweg, und der Buchautor übersah das Paradox, dass die Russen bis 1991 unter einem westlichen Import litten, dem sie sich mit der Ideologie des Russland-Hassers Marx ins Land geholt hatten. Marxist und Kommunist ist übrigens auch Putin nicht, sonst hätte er sich von Alexander Solschenizyn nach dessen Rückkehr aus Amerika bis zu seinem Tod im Jahr 2008 nicht beraten lassen.

Putin verstehen zu wollen, müsste Pflicht aller westlichen Politiker und Kommentatoren sein. Seine Leitlinie war und ist die Sicherheit des russischen Nationalstaats. Die sah er durch eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine und durch westliche Militärbasen in Schussweite von Rostow am Don bedroht. Er wird auch registriert haben, dass amerikanisches Militär schon Anfang der 90er Jahre in Georgien und damit an der russischen Südgrenze auftauchte, um Manöver abzuhalten. Oder dass amerikanisches Geld in die Kassen der tschetschenischen Islamisten floss. Oder dass in Washington frühzeitig über eine Zerschlagung Russlands nachgedacht wurde, so von Verteidigungsminister Dick Cheney, dem starken Mann hinter Präsident Bush. In seinen 2014 erschienenen Memoiren erinnerte sich der frühere US-Verteidigungsminister Robert Gates: „Als die Sowjetunion Ende 1991 zusammenbrach, wollte Dick nicht nur die Auflösung der Sowjetunion und des russischen Imperiums, sondern die Zerlegung Russlands selbst, damit es nie mehr eine Gefahr wäre.“ 1997 war es der Stratege Zbigniew Brzezinski, der in „Foreign Affairs“, der Zeitschrift des Council on Foreign Relations, Russland „dezentralisieren“ wollte, und zwar aufteilen in ein Europäisches Russland, eine Sibirische Republik und eine Fernöstliche Republik. 

Brzezinski übersah ebenso wie Erich Friede, dass Russland in seiner neuzeitlichen Geschichte einerseits vergleichbar mit den USA kontinental expandierte (im Süden zulasten des Osmanischen Reichs), andererseits aber mehr als einmal Opfer feindlicher Invasionen wurde. Lange vor Napoleon brannten die Krim-Tataren Moskau nieder (1571), standen polnische Truppen in Moskau (1605). 1855 musste Sewastopol kapitulieren – Großbritannien und Frankreich hatten sich mit der Türkei gegen den Zaren verbündet. In der Region Kursk, wo in diesem Sommer ukrainische Truppen einrückten, tobte im Juli 1943 die bis heute größte Landschlacht der Geschichte, bekannt als „Operation Zitadelle“.

Falsche Narrative: Womit sollte Putin die Nato angreifen?

Nach den vielen schlechten Erfahrungen, die der Westen mit Russland (und umgekehrt) gemacht hat, beruht das heutige antirussische Narrativ auf  Unterstellungen, Irrtümern und Widersprüchlichkeiten. Unmittelbar nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 behauptete Annalena Baerbock, die Sanktionen müssten „das System Putin im Kern treffen“. Aus Washington war zu hören, die russische Wirtschaft solle vernichtet werden. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass die russische Volkswirtschaft ungeachtet ihrer strukturellen Schwächen und trotz der Sanktionen nicht schrumpft, sondern wächst. Die Sanktionen wurden umgangen, es wurde improvisiert, Importe wurden durch eigene Produkte ersetzt. Dann hieß es, Moskau hänge am Tropf Chinas. In Wirklichkeit ist die Abhängigkeit beiderseitig. Vor allem in der Militärtechnologie sind die Russen den Chinesen überlegen, bei den Cyberwar-Fähigkeiten sind sie Weltklasse. Und das energiehungrige Reich der Mitte bezieht aus Russland Erdöl unter dem Weltmarktpreis. Damit büßen die Russen Einnahmen ein, aber zugleich subventionieren die westlichen Sanktionen indirekt China, den primären Gegner der USA. Jedenfalls zeichnet der oft zitierte Satz, Russland sei nur eine Atommacht mit Tankstelle, ein falsches Bild. 

Mehr als alles andere substanzlos ist die auch von deutschen Politikern verbreitete Lesart, Putin werde sich nach der Ukraine auch das Baltikum oder Polen einverleiben und einen Krieg mit der Nato anzetteln. Belege oder Indizien dafür wurden nie auf den Tisch gelegt. Hans Michael Rühle, der über 30 Jahre im Internationalen Stab der Nato gearbeitet hat, nannte solche Unterstellungen in einem Beitrag für die „Welt“ vom 13. März 2024 „grob fahrlässig“. Rühle schrieb: „Im Gegensatz zum Baltikum oder Polen war die Ukraine im russischen Verständnis immer ein Sonderfall, weil sie weit mehr als jedes andere Nachbarland unmittelbar mit der Geschichte und dem Selbstbild Russlands verknüpft war.“ Rühle nannte einen zweiten „Trugschluss“ der neuen Domino-Theorie: „Selbst wenn Russland die Absicht hätte, die Nato herauszufordern, besitzt es dazu nicht die militärischen Fähigkeiten – und wird sie auch auf lange Zeit nicht besitzen.“ Man könne eine Steigerung des deutschen Verteidigungshaushaltes nicht dadurch sicherstellen, dass man Russland als Möchtegern-Imperialisten karikiert, der nur auf eine Gelegenheit wartet, um zuzuschlagen. Und: „Der Sicherheit Europas ist damit nicht gedient.“ 

Der früher in Moskau, jetzt in Berlin lebende Russland-Kenner Alexander Gabujew befürchtet, dass das Land in zehn Jahren völlig losgelöst sein werde vom Westen in Bezug auf Wirtschaft, Finanzinfrastruktur, Technologie und Kontakte zwischen den Bürgern. Er weiß auch, dass es sich beim Schulterschluss zwischen Moskau und Peking um keine Liebesheirat handelt. Er ist erzwungen und pragmatisch mit dem gemeinsamen Nenner des Widerstands gegen amerikanische Hegemonieansprüche. Putin sage sich, so Gabujew, „die Chinesen wollen unser Geld, aber immerhin greifen sie unsere Seele nicht an“. 

Dass sich hinter der neuen Feindschaft zwischen Ost und West ein Kulturkampf verbirgt, der von der militärischen Konfrontation nur überdeckt wird, glaubt auch die polnische Politikwissenschaftlerin Alicja Curanović. Die russischen Eliten – und eben nicht nur Putin – sähen Russland als Brückenbauer zwischen den Zivilisationen Asiens und Europas. Russlands Aufgabe erblickten sie zudem darin, für eine gerechte Weltordnung und für ein internationales Gleichgewicht der Kräfte zu sorgen. Putin habe 2007 gesagt, dass es eine Einheit des Kontinents nur geben könne, wenn Russland als größtes Land Europas integraler Bestandteil des europäischen Einigungsprozesses werde. Zugleich lehnten die russischen Eliten, so die Polin, jeden „Messianismus“ als unrussisch ab, insbesondere den Versuch des Westens, die eigene Werteskala zu verbreiten. In den Eliten herrsche Konsens darüber, dass Russland schon immer Großmacht gewesen sei und auch bleiben werde. 

Auch Viktor Orbán hat sich in einem Vortrag im vergangenen Juli zum Werte-Antagonismus geäußert. Weil LGBTQ der Schlüssel zur Propagierung westlicher Werte sei, diese Ideologie aber von Russland und vom Rest der Welt abgelehnt werde, sei Russland damit in einem Bumerang-Effekt „soft power“ zugewachsen.

Wenn Curanović recht hat, liegt der Westen falsch, wenn er das Problem in der Person des derzeitigen russischen Präsidenten sieht und ihn dämonisiert. Nicht nur das, es sind unbequemere und gefährlichere Nachfolger vorstellbar als der Rationalist Putin. Die Amerikaner und in ihrem Schlepptau die Europäer haben immer noch die Option, auf das Istanbul-Communiqué  vom 30. März 2022 zurückzugreifen. Damals hatten sich Kiew und Moskau auf die Bedingungen eines Kriegsendes geeinigt. Zuvor freilich müsste die giftige Erzählung von den „Hunnen“ abgeräumt werden. Vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis das eine Feindbild durch das nächste ersetzt, bis die Russophobie von der Sinophobie verdrängt wird. 

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Diesen Artikel finden Sie gedruckt zusammen mit vielen exklusiv nur dort publizierten Beiträgen in der am 27. September erscheinenden Oktober-Ausgabe eigentümlich frei Nr. 246.


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