12. September 2024

Deutschlands Infrastruktur im Verfall Zum Brückeneinsturz in Dresden

Mögliche Ursachen

von Rocco Burggraf

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Bildquelle: Heponto / Shutterstock Carolabrücke in Dresden: Vor ihrem Teileinsturz

Spektakuläre Bilder. Einhundert Meter „Carolabrücke“ liegen in der Elbe. Chaos und Entsetzen im erwachenden Dresden. Für die „Weiße Flotte“ und alle übrigen Schiffe, Straßenbahnen und den Individualverkehr ist dort erst mal Feierabend. Auch der beidseitig verlaufende Elberadweg ist an dieser Stelle bis auf Weiteres unterbrochen. Die konkreten Auswirkungen des Crashs auf den Berufsverkehr im ohnehin mit Baustellen förmlich zugepflasterten Straßennetz sind kaum zu übersehen. Wie immer, wenn irgendwo eine Brücke zu Bruch geht, sprechen wir nicht von Wochen und Monaten, sondern von Jahren, die bis zur Wiederherstellung vernünftiger Verkehrsabläufe vergehen.

Und schon geht’s rund im Netz. Das Qualitäts-TV der ARD sortiert die exotische Hauptstadt im Osten gleich mal nach Nordrhein-Westfalen, andere wissen von einem Terroranschlag, wieder andere haben herausgefunden, dass die neuen Straßenbahnen viel zu schwer sind. Daher nun mein Beitrag zur Versachlichung der Debatte. Zuallererst – am nächsten dran sind alle, die ein Sinnbild der in allen erdenklichen Sphären bröckelnden deutschen Substanz erkennen. Denn genau darum geht es hier mit hoher Wahrscheinlichkeit.

Zunächst ein paar Daten zur verkehrstechnisch wichtigsten der vier innenstadtnahen Brücken. Die an gleicher Stelle bereits 1892 errichtete 340 Meter lange Vorgängerbrücke, ein Schmuckstück der Bogenbrückenbaukunst, wurde einen Tag vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges von der SS gesprengt. 1952 widerfuhr den verbliebenen Resten das gleiche Schicksal. Die beiden noch übrig gebliebenen Mittelpfeiler im Fluss wurden schließlich 1960 in Vorbereitung des Neubaus abgerissen. Ab 1967 wurde vom „VEB Brückenbau“ in vierjähriger Bauzeit die neue 32 Meter breite, schon zur Entstehungszeit ob ihrer aufs Notwendigste reduzierten Gestaltung stark kritisierte Brücke aus Spannbetonelementen errichtet. Sie erhielt 1971 zunächst den Namen Dr.-Rudolf-Friedrichs-Brücke und erst später ihren ursprünglichen Namen zurück.

Die Bauart der Brücke war zur Entstehungszeit durchaus ein statisches Wagnis, da mit Spannbetonträgern dieser Dimension wenig Erfahrungen vorlagen. Die riskante Konstruktion wurde in der Fachpresse als technische Meisterleistung gefeiert und vor zwei Jahren erst ob ihrer baugeschichtlichen und technischen Bedeutung unter Denkmalschutz gestellt. Die Wahl der Konstruktion könnte sich im Rückblick nun als Fehlentscheidung erwiesen haben. Da nur ein Pfeiler im Fluss eingesetzt werden sollte, mussten oberhalb des schiffbaren Teils der Elbe schließlich 120 Meter bis zum Widerlager überbrückt werden – ein „Spannbetonrekord“ in der DDR, auch wenn man heute in China bei Stützweiten oberhalb von 500 Metern angekommen ist.

Die Konstruktion der Carolabrücke besteht – wichtig fürs Verständnis – aus drei parallel verlaufenden, also weitgehend voneinander unabhängigen Spannbetonhohlkörpern, sogenannten „Gerberträgern“. Es handelt sich also genau genommen um drei lose miteinander verbundene Brücken. Einer dieser Träger (der Altstadt zugewandt) ist nun in unbelastetem Zustand und, so weit wie bisher bekannt, auch ohne ein erkennbares unmittelbares externes Ereignis, eine sogenannte „dynamische Lasteintragung“ (beispielsweise durch ein Schiff bei zu hohem Pegelstand), in der Nacht zusammengebrochen. Es handelt sich um den Teil, auf dem nicht die Autofahrbahnen, sondern Straßenbahngleise und Gehweg verlaufen.

Was genau hat aber nun zum Einsturz geführt? Ein Statiker wäre wahrscheinlich am ehesten auskunftsfähig. Ich bin als Architekt mit statischen Kenntnissen aber so weit ausgestattet, dass ich mir eine erste Einschätzung zutraue. Die will ich kurz darlegen. Erstens: Externe Impacts hatten wir ausgeschlossen. Zweitens: Auf den ersten Blick naheliegend, aber aus meiner Sicht ebenfalls auszuschließen ist, dass die derzeit laufenden Umbauten und Sanierungen die Ursache darstellen. Zwar wurden die sogenannten Brückenkappen erweitert, Fahrbahndecken mit nicht metallisch bewehrtem Beton erneuert, allerdings, soweit man sehen kann, nicht an den jetzt zerstörten Stellen und nicht mit Zusatzlasten, die eine mit hohen Sicherheitskoeffizienten berechnete Brücke zum Einsturz bringen würden. Die Ursache muss eine andere sein.

Es gibt zwei anhand der Fotos klar erkennbare Bruchstellen. Eine liegt ziemlich genau in der Mitte des längsten Abschnittes in der Nähe der gelenkigen Verbindung, die andere unmittelbar am Pfeiler. Es wäre von erheblichem Interesse, welche von beiden zuerst versagt hat. In beiden Fällen ist allerdings eine Materialermüdung in Form von feuchtebedingten chemischen Reaktionen in den Trägern selbst beziehungsweise deren Auflagern auf dem Pfeiler anzunehmen. Materialermüdung heißt in diesem Fall, dass der Beton durch Witterungseinflüsse, permanente Schwingungen und natürliche Alterung rissig wird. Durch diese Risse gelangt Feuchtigkeit, verbindet sich mit Auswaschungen und Streusalz zu Chlorid, verursacht alkalische Reaktionen und dringt bis zu den Stahleinlagen vor. Das Ergebnis ist Korrosion, die immer auch bei korrosionsgeschütztem Stahl auftritt. Korrodierter Stahl in rissigem Betongefüge versagt irgendwann seinen Dienst.

Begünstigend könnte zudem gewirkt haben, dass durch den Wetterumschwung der letzten Tage eine erhebliche Abkühlung der Konstruktion zu einer thermischen Längenverkürzung der Spannstähle geführt hat. Dies wiederum ist für eine erhebliche Zunahme der inhärenten Zugspannung verantwortlich. In einer bereits angegriffenen Konstruktion könnte dies zum Abriss der Stahlstäbe von den Ummantelungen oder Widerlagern führen. Dies wäre anzunehmen, wenn die mittige Bruchstelle der auslösende Faktor gewesen wäre. Sollte die Brücke zuerst am Pfeiler versagt haben, müsste man sich besonders die stahlbewehrte Auflagerkonstruktion ansehen. Hier könnten korrodierte Stähle möglicherweise zu einem plötzlichen Absacken des Brückenauflagers unter Druck und anschließend zum Schwingen und Versagen der gelenkig aufgebauten Gesamtkonstruktion geführt haben.

In beiden genannten Fällen wie auch jeder anderen gutachterlichen Feststellung werden sich die beteiligten Brückeninspektoren jedenfalls unangenehmen Fragen zu ihren Bauzustandsanalysen stellen müssen. Das warnende Sinnbild ist eindeutig: Das Bröckeln der Substanz führt irgendwann über Nacht zum plötzlichen Zusammenbruch der Gesamtkonstruktion. Das Vertrauen nach dem Motto „Es wird schon noch ’ne Weile halten“ ist verdammt gefährlich!

Update: In den Kommentaren wird richtigerweise auch noch auf die im betreffenden Abschnitt verlaufende ziemlich große Fernwärmeleitung verwiesen. Prinzipiell wäre es möglich, dass sich durch Lecks in der Leitung ein hohes Zusatzgewicht aus Heißwasser im Träger angesammelt hat, wodurch es zum Einsturz gekommen sein könnte. Es würde dann darauf ankommen, zu ermitteln, ob die Leitung durch den Einsturz zerrissen wurde oder ob – umgekehrt – die geborstene Leitung zum Einsturz führte. In den Nachrichten der alarmierten Feuerwehr hat man zunächst Ersteres angenommen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf der Facebook-Seite des Autors.


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Dossier: Redaktioneller Beitrag

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Rocco Burggraf

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