16. November 2022
Anarchokapitalismus in echt: 500 Jahre Freiheit
Die erstaunliche Geschichte der Harmersbachtaler
von Oliver Gorus
In den Rhein fließt bei Straßburg die Kinzig, die aus dem Schwarzwald herunterkommt. Und bei Zell fließt in die Kinzig der Harmersbach, der ein 16 Kilometer langes Schwarzwaldtal entwässert, in dem mehrere Bauernhöfe, Kapellen und zwei kleine Dörfer liegen.
Zell wurde durch das Benediktinerkloster Gengenbach gegründet. Und dieses wurde im achten Jahrhundert vom Heiligen Multiklostergründer Pirmin in die Welt gesetzt, und zwar schlauerweise nicht auf fürstlichem, sondern auf Reichsgut, nachdem er von der Insel Reichenau im Bodensee wegen einer Streiterei zwischen alemannischen und karolingischen Fürsten vertrieben worden war. Politiker tun eben, was Politiker tun, und manchmal kehren die Besten ihnen den Rücken.
Pirmin hatte am Bodensee einen guten Job gemacht. Auf der damals verwilderten und unbewohnten Reichenau inmitten des von Heiden umsiedelten Bodensees hatte Pirmin der Sage nach durch seine pure Anwesenheit alle Schlangen, Kröten und sonstiges Gewürm vertrieben. Die Anbetung des Sankt Pirmin soll darum gegen Schlangen und Pest helfen, also in heutiger Zeit vermutlich auch gegen Kommunisten.
Jedenfalls gründete er auf der Reichenau, nachdem er mit seinen vierzig Gefolgsleuten die Insel gerodet hatte, ein Kloster, das im frühen Mittelalter nichts weniger als das geistige und wissenschaftliche Zentrum der Welt der Karolinger und Ottonen wurde.
Ich erzähle das nur, weil ich am Bodensee wohne und bezeugen kann, dass hier der gewürmvertreibende Geist des Heiligen Pirmin noch irgendwie zu spüren ist, und ich suggerieren will, dass die Gründung der Reichsstadt Zell im Schwarzwald durch das von Pirmin gegründete Reichskloster Gengenbach eben auch diese geistigen Wurzeln hatte.
In gutem Geiste
Also weiter. Eine Stadtgründung im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation verlief damals etwa so: Das Kloster Gengenbach beantragte 1325 direkt beim Kaiser, aus dem Bauerndorf Zell eine Stadt zu machen. Kaiser Ludwig IV. stimmte zu und erklärte fünf Jahre später Zell offiziell zur reichsunmittelbaren Stadt.
Das heißt, Zell sollte direkt dem Kaiser und nicht einem Fürsten gehören. In diesem Sinne war die Stadt frei von Fürstenherrschaft. Und da der Kaiser weit weg war und viel um die Ohren hatte, war die Reichsunmittelbarkeit gleichbedeutend mit dem Privileg, von Politikern in Ruhe gelassen zu werden und sein eigenes Ding machen zu können. Guter Geist!
Außerdem erließ der Kaiser dem Rat der Stadt und damit den Bürgern für vier Jahre sämtliche Steuern. Eine Investition, damit die braven Leut erst mal eine ordentliche Stadt bauen konnten. Damals wusste man nämlich noch, dass hohe Steuern die Wirtschaft bremsen und niedrige oder eben gar keine Steuern einen Wirtschaftsraum in Schwung bringen. Der Kaiser Ludwig IV. verstand offenbar im 14. Jahrhundert mehr von Wirtschaft als die Bundesregierung von heute.
Ludwigs Nachfolger Karl IV. bestätigte die Reichsunmittelbarkeit von Zell nochmals mit einem offiziellen Stadtbrief und ordnete dem kleinen Städtchen zur wirtschaftlichen Stärkung unter anderem das Harmersbachtal mitsamt seinen Bauernhöfen zu.
So, das Harmersbachtal, das ist wichtig, und jetzt kommt eine der vielen Merkwürdigkeiten der Geschichte. Ich begründe auch gleich, warum ich sie für so bemerkenswert und für heute noch relevant halte.
Trotzig und frei
Zell mitsamt dem Harmersbachtal wurde nämlich vom chronisch klammen Kaiser im Jahre 1367 an Straßburg verpfändet. Erst 1504 löste das Heilige Römische Reich das Städtchen wieder aus, allerdings vertragswidrig ohne das Harmersbachtal. Ab diesem Moment gehörten die Talbewohner irgendwie niemandem mehr. Was ja based ist.
Sie waren die Freiheit von Politik ja auch schon fast 200 Jahre lang, also über Generationen hinweg gewöhnt. In dieser langen Zeit hatten sie ihre eigene Gerichtsbarkeit herausgebildet: Die Bewohner des Tals bestimmten zur Rechtsprechung einen der ihren als „Talvogt“, also als Richter, sowie einen Ausschuss aus zwölf Bauern als Urteiler. Dreimal im Jahr untersuchte der Zwölferrat die Streitigkeiten im Tal und verurteilte die Übeltäter, der Talvogt vollstreckte das Urteil, trieb also die Bußen ein oder bestrafte die Verurteilten.
Die Hamersbachtaler waren es gewohnt, sich selbst Recht und Ordnung zu geben und hatten dazu auch vom Kaiser und vom Abt des Klosters das verbriefte Recht. Und genau so organisierten sie sich auch weiterhin. Das Tal war eine Art Bauernrepublik. Deren Bewohner waren auch schlau genug, sich mit den Zellern, den Gengenbachern und den Offenburgern freundschaftlich zu verbünden, um sich gegen Überfälle raffgieriger Fürsten wehren zu können.
Es dauerte fast weitere 200 Jahre, bis Kaiser Leopold I. sein Reichseigentum ordnete und dabei im Jahre 1689 auch das Harmersbachtal wieder einsortierte. Er wollte das Tal wieder dem Reichsstädtchen Zell zuschlagen – aber da hatte er die Rechnung ohne die Bauern gemacht!
Die nämlich kamen sehr gut ohne städtische Aufsicht zurecht und erkannten die Ansprüche der Zeller schlicht nicht an. Sie wollten unabhängig bleiben und akzeptierten insbesondere bei der Justiz nichts außer ihrem eigenen Vogt und ihrem Zwölferrat.
Fast dreißig Jahre lang beharrten die Harmersbachtaler auf ihrer Autonomie, stritten und blieben stur. Schließlich gaben die Zeller auf, der Kaiser klein bei, und 1718 wurde das Tal offiziell zum Reichstal ernannt – zum einzigen reichsunmittelbaren Tal im gesamten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.
Ihre eigenen Herren
Erst 1806, in Folge des Reichsdeputationshauptschlusses, wurde das Tal mediatisiert, verlor seinen Status als Reichstal und wurde dem neu gebildeten Großherzogtum Baden zugeschlagen. Der letzte Talvogt Hansjörg Bruder, der im Hauptberuf Metzger und Wirt und nebenberuflich Herr über Leben und Tod im Harmersbachtal war und als solcher nur den Kaiser über sich hatte, wurde zu einem niederen badischen Kleinvogt unter einem badischen Obervogt in Gengenbach degradiert. Die Reichsherrlichkeit im Harmersbachtal war zu Ende, die erstaunlich stabile und stolze Geschichte der freien Bauern hatte rund 500 Jahre gedauert.
Diese Geschichte kann uns heute manches lehren. Zum einen, dass es keinen Staat braucht, um friedlich und produktiv zusammenzuleben. Zum anderen, dass die Geschichte immer wieder Irrungen und Wirrungen und damit Nischen und Zeitfenster hervorbringt, in denen die Freiheit gedeiht. Des Weiteren, dass individuelle Freiheit immer die Freiheit von Herrschaft ist und dass es nur darauf ankommt, einen Weg zu finden, die Herrschaft abzuschütteln. Außerdem, dass Menschen, die zusammenhalten, sich mit friedlicher Sturheit die Freiheit ertrotzen können.
Und nicht zuletzt lehrt diese Geschichte, dass in einem Gebiet derjenige über die Menschen herrscht, der darüber bestimmt, wer Recht spricht. Wer das Gericht hat, hat die Macht.
Wenn in der heutigen Bundesrepublik die Parteivorsitzende der stärksten Partei den höchsten Richterposten des Staats aus den Reihen der eigenen Partei bestimmt, dann ist klar, wer herrscht: die Parteien, nicht das Volk.
Aber im Harmersbachtal herrschten die Bewohner selbst, weil sie sich selbst auf die Besetzung ihres Gerichts einigten. Sie hatten keinen Herrscher. Sie brauchten auch keinen und sie wollten keinen. Aber sie hatten dennoch Recht und Ordnung und schützten so ihr Eigentum – eben eine bestens organisierte Anarchie, ein echter, funktionierender Anarchokapitalismus.
Hätten Sie gedacht, dass so etwas möglich ist?
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Kommentare
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