02. November 2022
Im Zweifel für die Freiheit: Warum die Sanktionen aufgehoben werden müssen
Der freiheitliche Standpunkt bei Handelsbeschränkungen
von Oliver Gorus
Eigentlich sind Sie schon für die Freiheit, aber dann doch irgendwie gegen freie Geschäfte mit Russland? Oder mit dem Iran? Oder mit Saudi- Arabien?
Wie ist es also mit dem Freihandel, wenn die gemeine Realität zubeißt? Alles nur theoretische Ideale libertärer Ideologen, die in der realen Welt schlicht nicht praktikabel sind?
Viele, mit denen ich bei der Arbeit, im Freundeskreis oder auf Twitter diskutiere, haben Kopfsalat, wenn im konkreten Fall die widerstreitenden Interessen und Ideale miteinander in Konflikt geraten und die Frage zu beantworten ist, welches Prinzip denn nun Vorrang hat. Das ist beispielsweise auch bei der Frage der Freizügigkeit so: Grenze für Migranten dichtmachen oder nicht? Oder bei der Frage freier Märkte: Preisdeckel für Strom und Gas oder nicht?
Dabei ist es freilich ganz einfach: Die ganze zur Aufdröselung von Wertekonfusionen notwendige Weisheit steckt im lateinischen Rechtssprichwort „In dubio pro libertate“ – im Zweifel für die Freiheit. Wenn man dann noch versteht, dass Freiheit immer nur individuelle Freiheit ist und es kollektive Freiheit schlichtweg nicht gibt, ist alles klar.
Das ist auch der Grund, warum in meiner Wahrnehmung Libertäre viel geringere Kopfschmerzen haben als Konservative. Die libertäre Weltsicht ist einfach durchdachter, konsistenter und in sich logischer als die Weltsicht der Konservativen oder die der Sozialisten.
Während bei Wertekonflikten Sozialisten ihren niederen Instinkten und ihren Emotionen gehorchen und Konservative auf ihr Herz und ihr Gewissen hören, können Libertäre die Sachlage rational verstehen und konkret entscheiden. Aus diesen Präferenzen resultieren ja auch die gängigen Vorurteile, die Libertären so oft vor die Füße gekippt werden: die angebliche Gefühlskälte und Herzlosigkeit. Was natürlich Quatsch ist.
Aber gut, schauen Sie sich doch einfach mal den eingangs genannten Wertekonflikt an.
Sanktionen sind Aggressionen
Jeder, der einen Funken Verstand und ein Quantum Redlichkeit besitzt, kann nicht verhindern zu wissen, dass Freihandel den Wohlstand für alle in der Welt vergrößert. Es ist beispielsweise unbestreitbarer Fakt, dass die wirtschaftliche Öffnung Chinas für den Handel Hunderte von Millionenen Chinesen aus der absoluten Armut gehoben hat. Oder dass das Ende des Kalten Kriegs und der damit verbundenen Aufhebung von Handelsbeschränkungen den Menschen Osteuropas schnelle Verbesserung ihres Wohlstands gebracht hat. Oder dass die vier Mitglieder der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA (Schweiz, Liechtenstein, Norwegen, Island) nach 60 Jahren Konzentration auf Freihandel in den Top Ten der Länder mit der höchsten Lebensqualität der Welt rangieren (übrigens ganz ohne gemeinsame Währung …).
Umgekehrt sind die für den Handel am meisten abgeschotteten Gebiete in der Welt wie Kuba oder Nordkorea oder manch afrikanischer Despotenstaat auch gleichzeitig die ärmsten Gegenden der Welt.
Handelsfreiheit bringt Wohlstand. Handelsbeschränkungen bringen Armut. Warum? Weil sie Arbeitsteilung und damit Wertschöpfung unterbinden. Je kleiner ein abgeschottetes Gebiet, desto schneller und härter schlagen die Menschen auf dem harten Untergrund der Existenz auf: Der Urzustand des Menschen ist Armut, nur freie, arbeitsteilige Wirtschaft auf freien Märkten erzeugt Wohlstand für alle.
Die Einschränkung des Handels der Bürger und Unternehmen durch Protektionismus, also durch Zölle, Einfuhrbeschränkungen, Embargos und Sanktionen, sind nichts anderes als Machtinstrumente von zu mächtigen Herrschern. Sie schränken die Freiheit der Individuen ein, um bestimmte Märkte und die damit verbundenen Menschen zu benachteiligen. Davon profitieren dann stets kleine, mit den Regierungen verkumpelte Gruppen. Beispielsweise profitieren derzeit von den gegen die russische Bevölkerung gerichteten Sanktionen US-amerikanische Fracking-Gas-Unternehmen und Reeder von LNG-Tankern, während der Wohlstand von 80 Millionen Deutschen rasend schnell reduziert wird.
Hinter jeder Handelsbeschränkung steckt politische Aggression, denn sie ist eine armutserzeugende Waffe. Der Eiserne Vorhang des Kalten Krieges hat einleuchtend gezeigt, wie das funktioniert: Ein Teil der Welt wird vom anderen abgeschottet. Die Menschen in beiden Teilen der Welt werden dadurch ärmer beziehungsweise in ihrem Wohlstandszuwachs gebremst. Allerdings gilt: Je größer und wirtschaftlich entwickelter der Wirtschaftsraum, desto langsamer die Verarmung und desto schwächer die Entwicklungsbremse. Der Schwächere und Kleinere verarmt als Erstes und muss aufgeben.
Handelsbeschränkungen sind somit so etwas wie jahrzehntelanges Armdrücken von Herrschern – allerdings auf Kosten der Bevölkerung auf beiden Seiten über Generationen hinweg! Für fast alle Individuen gilt darum: Handelsbeschränkungen sind eine Aggression von Herrschern gegen die eigene Bevölkerung, um der Bevölkerung anderer Länder zu schaden.
Die drei Grundpositionen
Der Sozialist sagt schlicht: Putin böse, du darfst mit dem bösen Mann keine Geschäfte machen, Kind!
Das Problem der Sozialisten dabei ist: Wo wollen sie mit dem Moralisieren aufhören? Da alle Herrscher Böses tun, müssten die sozialistischen Herrscher ihren Bürgern irgendwann alle Geschäfte mit allen Ländern verbieten – und dann würden die Bürger sehr schnell absolut verarmen. Nur eine Mauer mit Schießbefehl würde sie von der Flucht abhalten.
Der Konservative sagt: Wir müssen den Aggressor stoppen, aus Verantwortung vor der Geschichte, auch wenn es uns Opfer abverlangt.
Das Problem der Konservativen ist: Sie könnten sich schwer täuschen, welche Seite diesmal die größere und stärkere ist und wer wen stoppt. Ein neuer Kalter Krieg zwischen dem Westen und dem Rest der Welt ist diesmal für den Westen weit weniger aussichtsreich als beim letzten Mal. Russland, China und Indien könnten einen gemeinsamen, sich komplementär ergänzenden Markt bilden, der deutlich größer und stärker ist als der des von Sozialismus, einem maroden Währungssystem, Überalterung und bleierner Dekadenz geschwächten Westens. Das könnte sehr schlimm ausgehen.
Der Libertäre sieht als Einziger den Konflikt überhaupt nicht als Widerstreit von Kollektiven. Er differenziert zwischen Herrschern und Beherrschten und sagt: Was geht es Politiker an, mit wem Individuen und Unternehmen Geschäfte machen? Und was geht uns der Streit an, den zwei korrupte Oligarchenherrschaftssysteme miteinander haben? Handelsbeschränkungen treffen ja überhaupt nicht die Herrscher, sondern nur die Individuen und Unternehmen. Sie stärken oft sogar noch die Position des Herrschers, weil Menschen dazu neigen, sich um einen Führer zu scharen, wenn sie angegriffen werden.
Das Problem der Libertären ist: Die Sozialisten und Konservativen sind zahlreicher und darum an der Macht. Und in einem System mit Gewaltmonopol des Staats hat der Machthaber die Waffen. Und wer die Waffen hat, zwingt die Waffenlosen zum gewünschten Verhalten. Ein libertärer Unternehmer wird nicht nur durch Moralisieren und Diffamierung, sondern auch durch nackte Gewaltanwendung gegen jede Vernunft daran gehindert, seine guten Geschäftsbeziehungen mit russischen Unternehmen und Kunden weiterzupflegen.
Leid plus Leid ist gleich mehr Leid
Der freiheitliche Standpunkt ist glasklar: Niemand hat das Recht, andere Menschen daran zu hindern, Geschäfte miteinander zu machen. Alle Handelsbeschränkungen aller Art müssen darum generell aufgehoben werden. Auch und gerade dann, wenn es politische Konflikte gibt.
Ein freiheitliches Land würde darum in jedem internationalen Konflikt zwischen anderen Ländern automatisch eine neutrale Position einnehmen und durch unbeeindruckte Geschäftstätigkeit der Bürger und Unternehmen über Grenzen hinweg Friedensarbeit verrichten – ohne ethisch-moralische Probleme und ohne Gewissenskonflikte.
Den Einmarsch in die Ukraine, die Unterdrückung der iranischen Frauen oder der Uiguren in China und der saudische Krieg gegen die Jemeniten sind trotzdem übelste Verbrechen von viel zu mächtigen Herrschern und müssen als solche kritisiert werden. Selbstverständlich.
Handelsbeschränkungen allerdings helfen da nichts. Sie fügen dem Leid in der Welt lediglich weiteres Leid hinzu.
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