22. Juni 2022

Staatskrise Was Menschen tun, wenn sie das Vertrauen in den Staat verlieren

Ein Protokoll des Zerfalls

von Oliver Gorus

Dossierbild

mittwochs um 6 Uhr

„Wir schlittern in eine grundsätzliche Vertrauenskrise zwischen Staat und Bevölkerung“, sagte im Herbst 2021 der Bundesvorsitzende des deutschen Beamtenbundes, Ulrich Silberbach.

Ähnliches lese und höre ich immer öfter, und zwar nicht nur von den sogenannten „politischen Rändern,“ sondern auch von Persönlichkeiten und Organisationen, die sich selbst in der politischen „Mitte“ verorten, was auch immer das ist.

Und es stimmt ja auch: Das Vertrauen in den Staat erodiert tatsächlich mess- und wahrnehmbar. Und es gibt viele Gründe dafür. Aber mal abgesehen von den viel diskutierten Gründen: Was heißt denn das konkret? Was bedeutet „Vertrauen in den Staat“ überhaupt und was macht ein einzelner Bürger, dem es abhandenkommt? Welche Optionen hat er dann?

Faktoren der Erosion

Wenn Bürger Recht und Ordnung und wesentliche gesellschaftliche Funktionen an einen Monopolisten, den Staat, vergeben haben, ihr Vertrauen in diesen Monopolisten aber schwindet, dann heißt das konkret, dass ihr Zutrauen in die staatlichen Akteure, jene Aufgaben zu erledigen, die ihrer gesellschaftlichen Funktion und damit ihrer Existenzberechtigung entsprechen, ganz oder teilweise zerrüttet ist.

Die staatlichen Akteure und Agenturen sind:

- die Politiker (die handelnden Personen in den Parteien, Parlamenten und Regierungen)

- die politischen Institutionen (Parlamente, Regierungen, Ministerien, Gerichte, Polizei, Ämter und Behörden …)

- gesellschaftliche Subsysteme (Geldsystem, Sozialsystem, Rechtssystem, Gesundheitssystem, Bildungssystem …)

- das politische System insgesamt (Parteienherrschaft, parlamentarische Demokratie)

Ein großer Teil der Bevölkerung hat zweifellos noch immer volles Vertrauen in den Staat, seine Akteure und Institutionen und in das politische System der Bundesrepublik. Sie glauben grundsätzlich alle Erzählungen, Denkmuster und Deutungen der Wirklichkeit der Regierung und der öffentlich-rechtlichen Medien, sie vertrauen den Behörden und den staatlichen Institutionen, halten das politische System für das bestmögliche, gehen immer wählen, schauen immer „Tagesschau“, zahlen immer gerne Steuern und Abgaben und bejahen generell alle Anweisungen der Regierung oder der Behörden. 

Aber in den letzten etwa anderthalb Jahrzehnten gab es so viele Anlässe, am Staat zu zweifeln, dass die vollumfänglich Staatstreuen schon jetzt nicht mehr die Mehrheit stellen.

Diese Anlässe, die ich meine, sind zum Beispiel.: der Atomausstieg, die Griechenlandrettung, die Bankenrettung, die Aufgabe der Euro-Stabilität, Merkels Grenzöffnung mit nachfolgender Einwanderungskrise, die Stigmatisierung der AfD und ihrer Wähler, die Zensur im Internet via NetzDG, der Fall Kemmerich, die alarmistische Klimapolitik, die verpennte Digitalisierung, die autoritären Corona-Maßnahmen, die Selbstentmachtung des Parlaments durch das Infektionsschutzgesetz, die Skandalurteile des Verfassungsgerichts zur Rechtfertigung der Corona-Maßnahmen, die Veräußerung der bislang eigentlich unveräußerlichen Grundrechte, der Versuch, den Impfzwang einzuführen, die Ukraine-Krise mit Energieabhängigkeit von Russland, die Inflation beziehungsweise Geldentwertung, der Umbau des Verfassungsschutzes zu einer neuen Staatssicherheitsbehörde durch eine linksradikale Innenministerin …

Die staatstreuen Bürger blicken auf diese Anlässe natürlich völlig anders als die Zweifler. Aber mit jedem neuen Anlass wechseln wieder ein paar Unentschiedene zum Lager der Abtrünnigen.

Der Vertrauensschwund in den Staat ist jedenfalls ein akutes Thema, wie Umfragen belegen. Beispielsweise maß das Umfrageinstitut Forsa im Jahr 2021 einen Rückgang der Zahl derer, die auf die Handlungsfähigkeit des Staates vertrauen, von 56 auf 45 Prozent in nur einem Jahr.

Der Vertrauensschwund war aber auch schon vor der Corona-Maßnahmenkrise deutlich beobachtbar: Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung ließ 2019 durch die Universität Bonn repräsentativ ermitteln, wie viele Bürger mit der Demokratie in Deutschland zufrieden sind. Ergebnis: 53 Prozent sind nicht oder sogar „überhaupt nicht zufrieden“. Mehr als zwei Drittel sorgen sich um die Zukunft, und über ein Drittel ist der Meinung, dass es völlig egal ist, wer an der Regierung ist.

Besonders krass: Zwei Drittel haben generell wenig oder gar kein Vertrauen in die Parteien – die man ja mit einigem Recht auch als den eigentlichen Souverän im politischen System in Deutschland betrachten könnte –, da die Parteien oberhalb der kommunalen Ebene sämtliche Posten des Systems aus ihrem Personalbestand mit viel Moralin und wenig Kompetenz besetzen können, wie wir deutlich bis dreist bei der Besetzung des Präsidentenpostens des Bundesverfassungsgerichts mit einem treuen CDU-Parteisoldaten vorgeführt bekamen, der dann prompt in der Corona-Maßnahmenkrise aus dem Verfassungsgericht eine evidenzbefreite Regierungsbestätigungsstelle gemacht hat.

Neun Optionen

Aber nicht nur Umfragen, auch das beobachtbare Verhalten der Bürger belegt, dass immer mehr Menschen ihr Vertrauen in den Staat mehr oder weniger verloren haben. Sie haben nun meines Erachtens neun Möglichkeiten, sich in dieser Situation zu verhalten:

Erstens untertänig: Sie beklagen und erdulden die Herrschaft des Unrechts, schauen aber weiter „Tagesschau“, zahlen weiter brav Steuern und Abgaben, fühlen sich als ohnmächtige Opfer, neigen zum Zynismus und Fatalismus. „Da kann man halt nichts machen …“ – Von dieser großen Gruppe hat der Staat nichts zu befürchten. Die Leidensfähigkeit der Deutschen ist historisch betrachtet immens. Vielen fehlen außerdem nach all den Krisenjahren und großer finanzieller Unsicherheit das Selbstvertrauen, der Mut und das Gefühl von Selbstwirksamkeit.

Zweitens opportunistisch: Sie kompensieren die Verunsicherung, indem sie kurzerhand auf die dunkle Seite der Macht wechseln. Sie biedern sich dem Staat an, suchen ein sicheres Versorgungspöstchen, erdulden die autoritäre Machtanmaßung der Politiker und ihrer Freunde nicht nur, sondern machen mit, hetzen gegen die vermeintlichen „Staatsfeinde“, denunzieren sie und befolgen die Anweisungen des Staates auch dann, wenn es dreckig wird. Diese Gruppe ist dem Staat besonders nützlich, er umwirbt sie und macht ihr Angebote, wie derzeit die Innenministerin mit ihrer zentralen Meldestelle für Denunziationen.

Drittens eskapistisch: Sie fliehen in die innere oder äußere Emigration, also Auswanderung (die Jungen und Begabten) oder Rückzug (die Älteren oder Mittellosen). Die Zahl der Auswanderer pro Jahr liegt in den Zehnerjahren ungefähr doppelt so hoch wie in den Nullerjahren und ist nach zwei Jahren staatlicher Repressionen anlässlich Corona ein besonders heißes Thema unter jungen und vermögenden Bürgern. In meinem persönlichen Umfeld sind in den letzten Jahren mittlerweile ein knappes Dutzend Freunde und Bekannte ausgewandert: Spanien, USA, Dänemark, Finnland, England, Japan, Ungarn, Schweiz sind die Zielländer.

Viertens demokratisch: Sie wählen Randparteien, ärgern sich darüber, dass sich dadurch nichts ändert, wählen darum Randparteien, ärgern sich darüber, dass sich dadurch nichts ändert, wählen darum Randparteien, ärgern sich … und so weiter. Es werden dem Bedarf gemäß auch jede Menge neue Parteien gegründet wie zum Beispiel die AfD oder die Basispartei. Und die Stimmenanteile der „Sonstigen“ wachsen in den Wahlen stetig. Man kann darüber streiten, ob dieses Verhalten nicht einfach nur eine „demokratischere“ Version des Nichtwählens ist.

Fünftens unternehmerisch: Sie erkennen die durch den Vertrauensverlust wachsenden Bedarfe, beispielsweise an Sicherheit oder an Wahrheit. Sie gründen oder beauftragen oder arbeiten für Unternehmen, die nachgefragte Leistungen erbringen, die der Staat nicht mehr erbringt wie zum Beispiel Nachrichten statt Propaganda, freie und kritische Medien statt Zensur, Sicherheitsdienste statt Polizei, Bildung statt Indoktrination und so weiter. Als Beispiel sei der Kontrafunk erwähnt, das frisch gegründete oppositionelle Radio.

Sechstens agoristisch: Sie wenden sich jenseits der öffentlichen Sichtbarkeit vom Staat ab und drängen ihn aus ihrem persönlichen Leben: keine Wahlbeteiligung mehr, Ausweichwährungen, Schwarzarbeit, passiver Widerstand, steuerfreie Einkünfte, Tauschnetzwerke, Aufbau paralleler Strukturen, stiller Streik nach dem Muster von „Atlas Shrugged“.

Siebtens defensiv: Sie bewaffnen sich, lernen Selbstverteidigung und Schießen, investieren in Sicherheitstechnik, schützen sich selbst, ihre Familie und ihr Hab und Gut, bereiten sich auf gewalttätige Konflikte und den Blackout vor.

Achtens offensiv: Sie werden laut, kämpfen vor Gericht gegen den Staat, gehen auf die Straße, protestieren, werden in den Social Media aktiv, suchen die Öffentlichkeit, werden zu Aktivisten, obwohl sie wissen, dass das in die Verfolgung durch den Staat mündet, sie trotz Versammlungsrecht diffamiert und kriminalisiert werden und es generell sehr gefährlich ist, Gesicht zu zeigen. Ich erwarte, dass die Politiker auf die wachsende Wirksamkeit dieser Gruppe mit zunehmendem Autoritarismus reagieren. Dann droht den Aktivisten beispielsweise der Verlust des Arbeitsplatzes, sie werden von der Polizei drangsaliert oder verprügelt und von Politikern und ihren Freunden in den Medien öffentlich verleumdet, von der Justiz verfolgt. Am Ende bleiben nur die Flucht ins Asyl wie bei Edward Snowden oder die politische Gefangenschaft wie bei Julian Assange.

Neuntens kriegerisch: gewaltsamer Widerstand, Sabotage, Mord- und Terroranschläge aus dem Untergrund wie in Deutschland, in Südtirol, in Irland oder im Baskenland im 20. Jahrhundert. Die Ultima Ratio: Wenn alle anderen Ventile des Widerstands fruchtlos bleiben und in Gewalt und Verfolgung durch den Staat münden, wird Gegengewalt unter Einsatz des eigenen Lebens aus Sicht dieser Gruppe zum letzten Ausweg – wie einst im Deutschen Bauernkrieg.

Alle diese Verhaltensweisen bis auf die letzte (bislang) haben derzeit Hochkonjunktur. Die ersten drei (untertänig, opportunistisch und eskapistisch) kommen dem Staat gerade recht. Die zweiten drei (demokratisch, unternehmerisch, agoristisch) sind den Politikern und ihren Freunden reichlich lästig. Vor den dritten drei (defensiv, offensiv, kriegerisch) haben sie akute Angst.

Und wie geht es von hier aus weiter? Die aktuelle Dynamik lässt ahnen: Die Wahlbeteiligungen gehen zurück, die Politik polarisiert sich in rechte und linke Etatisten, den Regierungen kommt das Volk abhanden, die politischen Systeme zersplittern und werden manövrierunfähig, Parallelstrukturen entstehen, Notstände drohen bei Währung, Jobs, Energie und Lebensmitteln. – Und zwischen Politikern und Bürgern schaukelt sich gegenseitige Feindschaft hoch. Die 2020er Jahre werden heftig …


Artikel bewerten

Artikel teilen

Anzeigen

Kommentare

Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv Abonnenten der Zeitschrift „eigentümlich frei“ zur Verfügung.

Wenn Sie Abonnent sind und bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, nutzen Sie bitte das Registrierungsformular für Abonnenten.

Mit einem ef-Abonnement erhalten Sie zehn Mal im Jahr eine Zeitschrift (print und/oder elektronisch), die anders ist als andere. Dazu können Sie dann auch viele andere exklusive Inhalte lesen und kommentieren.

Anzeige