08. Juni 2022

Die Intellektuellen und die Freiheit Klug, aber dumm

Der Fall Guérot

von Oliver Gorus

Dossierbild

mittwochs um 6 Uhr

Der Fall Guérot ist in mehrerlei Hinsicht interessant. Doch zunächst musste ich feststellen, dass Prof. Dr. Ulrike Guérot am 2. Juni öffentlich vorgeführt und niedergemacht worden ist, nämlich vom Scharfrichter und Leiter des Tribunals Markus Lanz in seiner eigenen TV-Sendung sowie von seinen sekundierenden Gästen Strack-Zimmermann und Pleitgen, einer Politikerin und einem Freund der Politiker.

Ich habe die Sendung bei Ausstrahlung nicht gesehen, denn ich finde solche Debatten-Inszenierungen schon seit vielen Jahren unerträglich, außerdem habe ich schon vor über zwei Jahrzehnten meinen Fernseher entsorgt, um keinen orwellschen Televisor mehr im Haus zu haben, der mir meine Gedanken diktiert.

Aber in den Social Media, namentlich in Twitter, fand die öffentliche Hinrichtung tags darauf ihre unsägliche Fortsetzung. Wie bösartig da einzelne Aussagen von Guérot aus der Sendung ganz offensichtlich verkürzt, verdreht, bewusst falsch verstanden wurden, wie sie moralisierend in Denkschubladen gesteckt und wie gefordert wurde, sie mundtot zu machen, war auch für jeden textkundigen Leser nachvollziehbar, ohne die Sendung gesehen zu haben.

Später habe ich dann Ausschnitte gesehen und stellte fest: Es war ja noch viel schlimmer. Meiner Meinung nach zeigt die Dreistigkeit, mit der Lanz, Strack-Zimmermann und Pleitgen dieser Intellektuellen buchstäblich bei jedem einzelnen Satz ins Wort fielen, sie geradezu niederschrien, wie weit wir schon fortgeschritten sind mit der Entzivilisierung unserer Gesellschaft.

Der Fall Guérot zeigt aber noch mehr, nämlich die Naivität und das Versagen der Intellektuellen in diesem Spätherbst der Demokratie.

Ein Blick in den Abgrund

Im Gegensatz zu Lanz bin ich Pluralist. Ich schätze die Vielfalt der Gedanken und Meinungen und ihren Wettbewerb um die Beschreibung der Wirklichkeit als einen meiner höchsten Werte ein, und ich sehe ihn untrennbar mit meinem höchsten Wert, nämlich der individuellen Freiheit verbunden.

Mir ist das so wichtig, dass ich zwei meiner Unternehmen gleich ganz in den Dienst des Pluralismus gestellt habe, indem das eine mit Rat, das andere mit Tat jene Menschen dabei unterstützt, gehört, gesehen und gelesen zu werden, die etwas Eigenes zu sagen haben. Dabei habe ich weder einen Kunden noch einen Mitarbeiter jemals einer Gesinnungsprüfung unterzogen, dementsprechend ist das Spektrum der Standpunkte und Meinungen in beiden Gruppen sehr breit.

Was aber nicht heißt, dass ich mit all diesen Meinungen und Standpunkten einverstanden bin. Ich muss es nur aushalten. Und ich verlange andersherum auch von meinen Kunden und Mitarbeitern, dass sie es aushalten, dass andere Meinungen als ihre existieren. Meine zum Beispiel. Und die ist nun mal an vielen Stellen sehr weit weg vom politmedialen Hauptstrom. Das kann heutzutage leider nicht mehr jeder aushalten, was ab und zu zum Verlust von Kunden oder Mitarbeitern führt, aber andererseits führt es auch dazu, dass Kunden und Mitarbeiter gerade deswegen mit mir arbeiten wollen.

Wenn ich aus dieser pluralistischen Perspektive auf Ulrike Guérot schaue, dann sehe ich: Die Frau ist intelligent und gebildet, sie sagt oft sehr kluge Sachen, zum Beispiel zur Corona- oder zur Ukraine-Krise, anderes dagegen halte ich für grundfalsch, beispielsweise ihre Positionen zu Demokratie, Republik und Europa. Aber bitte, das ist doch bestens. Das lässt sich doch aushalten! Die Unterschiedlichkeit der Meinungen macht’s doch überhaupt erst interessant.

In ihrem Fall ist es zwar so, dass sie wohl niemals so bekannt geworden wäre, wenn sie nicht beim Europathema regierungskonforme Positionen öffentlichkeitswirksam vertreten hätte. Aber dennoch: So jemandem hört man doch erst mal zu, um sich dann mit ihm intellektuell auseinanderzusetzen, denn sie hat zweifellos etwas zu sagen, und sie hat definitiv den Mut, selber zu denken und sich gedanklich auch mal zufällig abseits des politisch-medialen Denkkorridors aufzuhalten.

Wie sehr schon jetzt öffentliche Gnade oder Ungnade einer solchen Persönlichkeit von der Konformität abhängen, lässt sich an den heftigen Reaktionen auf sie gut ablesen. Der Staat und seine Freunde verlangen definitiv mittlerweile maximale engste Konformität von allen öffentlichen Personen, ansonsten droht deren mediale Vernichtung (oder, wenn das nicht hilft, dann tritt die Polizei dem Dissidenten in aller Herrgottsfrühe die Türe ein und wirft ihn in seiner eigenen Wohnung nackt auf den Boden …) Dieses Symptom der Tyrannei hat mittlerweile in dieser postcoronaren Bundesrepublik Ausmaße wie in der DDR oder in anderen sozialistischen Staaten erreicht.

Der zivilisatorische Abgrund von Diskussionsunkultur, der mir da aus dem Staatsfernsehen entgegengähnt, dieser Antipluralismus der austrudelnden Bundesrepublik – das bedeutet nichts anderes als: Dieser Staat ist intellektuell bereits am Ende, seine Freunde haben’s nur noch nicht gemerkt.

Das eigene Gift

Aber auch Ulrike Guérot hat es noch nicht gemerkt. Und das ist bemerkenswert.

Dass die Türsteher der öffentlichen Meinung wie Lanz und seine Flügelzange den abweichenden Denker systematisch daran hindern, einen Gedanken auszuführen, beziehungsweise somit den Fernsehzuschauer daran hindern, einem kompletten Gedankengang zu folgen, hat doch eine klar erkennbare Absicht und ist kein Zufall: Es ist ein klarer Propagandaauftrag, ob er nun direkt hinter den Kulissen als konkreter Auftrag erteilt worden ist oder ob er unausgesprochen im System des vorauseilenden Gehorsams vom staatstreuen Lanz befolgt wurde: Die Mission einer solchen Sendung ist, den Bürger auf Linie zu halten.

Denn nichts fürchten Politiker mehr, als die Massen nicht unter Kontrolle zu haben. Jeder Politiker weiß, wozu Menschen in entfesselten Massen fähig sind und was dann ab und zu in der Geschichte mit jenen Politikern geschieht, die nicht rechtzeitig die Hälse gewendet oder sich vom Acker gemacht haben.

Also sorgen sie via TV beim Bürger für Kopfsalat und indoktrinieren ihn pausenlos und immer aggressiver und immer offensichtlicher, je kaputter die Gesellschaft ist. Das öffentliche Vorführen von „bösen“ Menschen gehört da immer dazu. Bestrafe einen, erziehe Millionen.

Und dennoch ist Guérot ein Fan, eine Verfechterin der öffentlichen Medien, die sie als „den Kernbestandteil einer Demokratie“ bezeichnet, ohne die eine Demokratie keinen Bestand haben könne. Außerdem ist sie eine glühende Demokratin und Vorkämpferin der Republik. Am liebsten würde sie nicht nur eine europäische Republik errichten, sondern sie sagt sogar, als ob das selbstverständlich wäre, dass wir am Ende die globale Republik „brauchen“.

Ja, nun. Nun hat sie eine Dosis des Gifts verabreicht bekommen, das sie selbst vermarktet: Sie konnte einen Geschmack vom zivilisatorischen Abstieg bekommen, den die Demokratie mit sich bringt, wenn sie sich letztendlich doch als Tyrannei der Mehrheit entpuppt, und welche widerwärtige Funktion in der Republik der auf Zwang und Gewalt gründende öffentlich-rechtliche Rundfunk innehat.

Sie bekommt somit eine Kostprobe der Konsequenzen ihrer eigenen Positionen – und hält dennoch daran fest. Nach allem, was sie in den letzten zwei Jahren selbst erlebt hat, ist sie trotz ihrer Klugheit, trotz ihrer Bildung und trotz ihres Strebens nach „Freiheit“ nicht in der Lage, ihre Positionen zu Politik, Parteiendemokratie, Gender-Ideologie, Republik, EU oder ÖRR infrage zu stellen.

Sie beklagt selbst, dass es in den Krisen unseres Landes als moralisches Verhalten gilt, „Andersmeinenden die Moral abzusprechen“ – wie sie es ja gerade erlebt hat. Und da schimmert zwischen den Zeilen durch, dass sie am Ende doch nichts anderes will, als bitte, bitte wieder zu den Guten dazuzugehören.


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