02. März 2022
Von der Impfpflicht zum Krieg: Staaten machen Staatensachen
Warum ich weder für die Ukraine noch für Russland bin
von Oliver Gorus
Am 15. Juni 2020 twitterte der Talkshowclown Lauterbach: „Die Großdemos in Berlin sind unverantwortlich. Das Risiko der Ausbreitung der Pandemie ist einfach viel zu groß. Die angereisten Demonstranten könnten neue Herde nach der Abreise weit verbreiten. Deutschland wird immer leichtsinniger.“
Damals hatten wir in Deutschland eine 7-Tage-Inzidenz von 2,8, also eine relative Häufigkeit von fast drei positiven Corona-Tests pro Woche und pro 100.000 Menschen.
Am 27. Februar 2022 lag die Inzidenz in Deutschland allerdings 500-mal höher, nämlich bei 1430,6 – und derselbe Talkshowclown twitterte live von einer Großdemo in Berlin, an der er selbst teilnahm. Mit Beweisfoto. Text: „Wir demonstrieren für Freiheit und Demokratie und damit gegen den narzisstischen Diktator Putin. Protestieren ist nicht alles. Aber es gehört dazu. Es zeigt unsere Haltung.“
Diagnose: Long Heuchelei
An diesen beiden Tweets können Sie eigentlich alle wichtigen Symptome der schlimmsten aller Nebenwirkung der Parteiendemokratie diagnostizieren. Gemeint ist die Berufspolitikeritis.
Und die Symptome sind erstens Bigotterie, denn wenn Sie für Freiheit demonstrieren wollen, ist es falsch, nur wenn er für Freiheit demonstrieren will, ist es richtig.
Zweitens Schattenprojektion, denn der Splitter im Auge des russischen Präsidenten ist der Balken im Auge des deutschen Gesundheitsministers, jedenfalls was den Narzissmus angeht.
Drittens Lüge, denn er erbringt ja selbst den Beweis, multipliziert mit 500, dass eine Demo unter freiem Himmel kein großes Risiko war und ist.
Viertens Moralisieren, so von wegen Haltung und Demokratie und unverantwortlich und überhaupt.
Fünftens Tugendsignalisierung statt Taten, denn sein Sozialisten-Club hat in den letzten zwei Jahrzehnten fast immer den Außenminister gestellt und ist zweifellos mitverantwortlich für die blutige Vorgeschichte des Ukraine-Konflikts seit 2014 – und will jetzt flaggenschwingend zu den Guten gehören und Öl ins Feuer gießen, anstatt mitzuhelfen, die Kampfhandlungen so schnell wie möglich zu beenden.
Sechstens kollektivistische Simplifizierung, denn nicht er oder ein Demonstrant wird immer leichtsinniger, sondern „Deutschland“. Und nicht er demonstriert und zeigt seine Haltung, sondern „wir“ demonstrieren und zeigen „unsere“ Haltung – das „Wir“ ist das gute Kollektiv, während das Böse immer von einem einzelnen Teufel verkörpert wird: Trump, Johnson, Salvini, Orbán, Erdoğan oder eben gerade Putin.
Moralprediger wie Lauterbach neigen dazu, ihre Meinung als wertvoller einzuschätzen als die anderer. Das verkörpert er mit jeder Nervenfaser. Dabei ist Moralisieren einfach nur eine Form von psychischer Aggression, die versucht, heroisch zu erscheinen, während sie Menschen unter der Drohung der Abwertung Einstellungen oder Standpunkte aufzwingt.
Gestern haben Sie für die Zwangsimpfung zu sein! Heute haben Sie im Ukraine-Konflikt für den Westen Partei zu ergreifen! Morgen haben Sie wegen der angeblichen Klimakatastrophe den Individualismus aufzugeben! Denn sonst werden Sie als schlechter Mensch gekennzeichnet werden: unverantwortlich. Falsche Haltung!
Schaufel und Kehrbesen für Scholz
Richtige Haltung demonstriert auch der Kanzler, der keine roten Linien mehr kennt, als er in seiner Rede im Bundestag letzten Sonntag unter dem Beifall der vereinigten Listenplatzbesitzer verkündet: „Freiheit, Toleranz und Menschenrechte werden sich auch in Russland durchsetzen!“
Hier sind wieder genau die gleichen Symptome durchgebrochen wie oben beim Talkshowgott: Diese drei Prinzipien, die der Kanzler da heuchlerisch für sich vereinnahmen und tugendsignalisieren möchte, was meint er damit? Wessen Freiheit, wessen Toleranz für was? Welche Menschenrechte? Für wen?
Da muss man schon mal nachfragen, denn das, was er sicher nicht meint, sind diese drei Begriffe als universelle Prinzipien, die nicht nur für Russen und Ukrainer, sondern auch für Deutsche gelten. Für ihn sind das neudeutsch „unsere Werte“ und als solche Herrschaftsinstrumente, Mittel zum Zweck, die willkürlich gewährt werden, wenn es den Herrschern passt – oder eben auch nicht.
Nicht passt es ihm bei Ungeimpften: Für die kennt er keine Toleranz, sondern verliert die Geduld, weil sie nicht machen, was sie sollen. Auf deren individuelle Freiheit, die als Freiheitsrechte auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit und Versammlungsfreiheit und Freizügigkeit verbrieft sind (sein sollten), die schlicht und ergreifend Menschenrechte sind, gibt er keinen Pfifferling. Sie müssen am Demonstrieren gehindert und zur Impfung gezwungen werden, alleine schon den Geimpften zuliebe – zum Zwecke der Befriedigung der verdrängten Rachegefühle.
Also, wenn Freiheit, Toleranz und Menschenrechte schon nicht für ungehorsame Mitbürger gelten, mit welchem Recht kritisiert er dann überhaupt Putins Regime in Russland? Möge der Kanzlernde seine eigene Kehrwoche erledigen, bevor er sich über die Schmutzränder im Treppenhaus des Nachbarn aufregt!
Es ist nicht unser Krieg
Nein, mich fangen die Bauernfänger mit ihren neupatriotischen und neonationalistischen Parolen nicht ein: Ich bin weder für die Ukraine noch für Russland noch für die Nato oder die EU. Ich bin gegen alle beteiligten Politiker und für das individuelle Recht auf Selbstverteidigung jedes einzelnen Russen oder Ukrainers oder Deutschen.
Ukrainische Familienväter, die ihre Familie und ihr Eigentum gegen staatliche Invasoren aus Russland verteidigen, haben genauso meinen höchsten Respekt wie russische Familienväter im Donbass, die sich gegen ukrainischen Staatsterror gewehrt haben.
Aber mit Heldengeschichten von Selenskyj oder Gräuelgeschichten von bösen Russen fängt mich keiner. Niemand bekommt mich mit Bigotterie, Schattenprojektionen, Lügen, Moralisieren, Tugendsignalisierung oder kollektivistischer Simplifizierung dazu, eine Seite in diesem völlig überflüssigen, an den Haaren herbeigezogenen Krieg zu wählen. Alle Seiten haben ihn doch gewollt und seit 2014 vorangetrieben! Es ist ein weiterer Krieg der Eliten, der Politiker und Journalisten und ihrer dummen Kriegstreiber überall in der Gesellschaft, die von ihrer Couch aus phantasieren, dass die Nato demnächst vor Moskau steht.
Widerlich. Ausgerechnet jetzt, nicht etwa zum Friedenserhalt, sondern mitten im Krieg brüllen sie wieder nach Waffen, nach höheren Militärausgaben, nach der Wehrpflicht, und zwar die Gleichen, die die letzten Jahrzehnte Waffen verdammt, Militärausgaben gesenkt und die Wehrpflicht abgeschafft haben und damit jede glaubwürdige Verteidigungsbereitschaft konterkariert haben, der Aggressoren in Europa hätte abschrecken können. Jetzt johlen die Kriegsgeilen überall und wollen mitsiegen. „Wir gegen Putin!“, geifern sie, die auf die billige Kriegspropaganda hereinfallen.
Aber in Wahrheit müssten wir uns diesem ganzen Wahnsinn verweigern – wie schon den totalitären Übergriffen Corona-Deutschlands. Deutsche gemeinsam mit Russen, mit Ukrainern, mit Amerikanern und mit vielen mehr – gegen Putin, Biden, Selenskyj, Scholz, von der Leyen und alle anderen Politiker und deren Freunde in Wirtschaft und Medien. Es ist ihr Krieg. Nicht unserer.
Staaten machen Staatensachen. Frieden auf Erden wird es erst geben, wenn wir die Staaten mit ihren Berufspolitikern überwunden haben.
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Kommentare
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