09. Februar 2022

Nicht links, nicht rechts, sondern beides Die Berliner Republik – ein gescheiterter Staatsversuch

Warum Karl-Hermann Flach recht behalten und sich trotzdem geirrt hatte

von Oliver Gorus

Dossierbild

mittwochs um 6 Uhr

Ein Zitat eines Zitats von Karl-Hermann Flach begegnet mir in den Social Media in den letzten Monaten fast jede Woche irgendwo: „Freiheit stirbt immer zentimeterweise“ – Guido Westerwelle hatte bei seiner Abschiedsrede als scheidender Parteivorsitzender am 13. Mai 2011 auf dem FDP-Parteitag in Rostock an diese merkwürdigen Worte Flachs erinnert. Dass dieser kurze Videoclip derzeit immer und immer wieder verbreitet wird, ist kein Wunder. Aber den Urheber, Karl-Hermann Flach, den kennt heute kaum mehr jemand.

Er war kein Libertärer, sondern ein sozialliberaler Parteipolitiker der FDP. Anders als die grünsozialistischen Feld-Wald-und-Wiesen-Pinksliberalen der heutigen FDP, die in den Social Media mit Kopf-ab-Gesten herumhampeln, um das Streichen des Werbeverbots für professionelle Kindstötung zu feiern, war er allerdings ein ernsthafter Bundesrepublikaner. Und das Wozu dieses provisorischen Versuchs einer neuen Gesellschaftsordnung nach der Katastrophe der Weltkriege stand ihm leuchtend vor Augen.

Die faschistoid-stalinistische Berliner Republik

Die CDU war ihm zu rechts, die SPD war ihm zu links. Diese Wahrnehmung stand noch ganz unter dem Eindruck der Spielarten des Totalitarismus, die er als junger Kerl gleich doppelt erleben musste: Während seiner Jugendzeit herrschte Hitler, als junger Mann floh er aus der DDR nach Westberlin.

Durchdrungen von diesen unmittelbaren Lebenserfahrungen konnte er so prophetisch schreiben, dass „wenn ernsthafte Gefahr für ihre Besitzpositionen droht, (...) den herrschenden Kreisen in kapitalistischen Staaten die Rettung durch eine faschistische Ordnung lieber sein [kann] als ihr Abstieg.“ – die gegenwärtige faschistoide Bündelung von Big Tech, Big Pharma und Big Media mit den Regierungen und Parteiführern in der gesamten westlichen Welt zum Zwecke des Machterhalts wäre ein Beispiel, das Flach lange nach seinem Tod recht gibt, das er sich in dieser Form aber wohl niemals hätte vorstellen können. Aber aus dieser Überlegung rührte eben sein Abstand zur damaligen Rechten, zur Adenauer-Union.

Sein Abstand zur sozialdemokratischen Linken auf der anderen Seite resultierte aus dieser Argumentation: „Im Sozialismus greift eine etablierte Führungsgruppe eher zu stalinistischen Praktiken, als sich echter Volkskontrolle, einer freien Öffentlichkeit und ihrer Abwahl auszusetzen.“ – Auch das war prophetisch. Die Art und Weise, wie das Raumschiff Berlin sich heute vom Volk abschottet, wie die gesellschaftliche Linke die Medien, die Schulen, die Universitäten und die Kultur besetzt und kontrolliert, wie das linke Establishment die Bevölkerung maßregelt, zwingt, indoktriniert und alle Widerständigen diskriminiert und kriminalisiert, ist genau das, was Flach meinte, nur eben wieder in einer ganz anderen Form, als es damals vorstellbar war. 

Flach wusste aufgrund seiner Sozialisation noch etwas Handfestes mit dem Begriff „Freiheit“ anzufangen, mit jenem Begriff, der zwar im Parteinamen der FDP steht, den aber die meisten heutigen „Liberalen“ im Rausch der Parteikarriere intellektuell weitgehend verdunstet haben. Für ihn war die Bonner Republik ein ernsthafter Versuch, eine freiheitliche Gesellschaft aufzubauen, die sowohl einem linken als auch einem rechten Totalitarismus widerstehen könnte.

Da allerdings hat er sich gründlich getäuscht.

Dass im Spätherbst der Bundesrepublik die Linke und die Rechte nicht mehr auseinanderzuhalten sind, dass beide Sorten Totalitarismus ineinander aufgehen und in der von einer DDR-Funktionärin jenseits aller etablierten Parteilager gebündelten autoritären Berliner Republik eine neue Form finden würde, das wäre für ihn eine echte Überraschung. Und dass seine FDP dabei ganz schamlos vorne mitmischt, würde ihn im Grab rotieren lassen.

Gewogen und für zu leicht befunden

Flach hatte immer wieder betont, dass Liberalismus in Wahrheit nicht mehr und nicht weniger bedeutet als Einsatz für die größtmögliche Freiheit des einzelnen Menschen und Wahrung der menschlichen Würde in jeder gegebenen oder sich verändernden gesellschaftlichen Situation. – Ja, das würde auch jeder Libertäre noch heute unterschreiben!

Aber das zentimeterweise Sterben der Freiheit hat eben auch dieser Gedanke nicht aufgehalten, auch wenn er noch so oft zitiert worden ist. Das Zentimeterweise ist ja das Perfide: Kaum einer hat beispielsweise gemerkt, dass die Einführung der Impfpflicht für Masern der Zeitpunkt war, an dem die persönliche Gesundheit offiziell zum öffentlichen Interesse erklärt worden ist. Die im letzten Kabinett Merkel eingeführte Masernimpfpflicht 2019 war völlig unnötig und bei einer freiwilligen Impfquote von mehr als 97 Prozent medizinisch-epidemiologisch überhaupt kein Thema, zudem verfassungsrechtlich bis heute höchst umstritten. Aber darum ging es auch gar nicht. Es war nur ein Testballon, der mit ein paar Scheinargumenten aufgeblasen wurde, um auszuprobieren, ob er steigen würde. Es war der eine weitere Zentimeter, der von der Freiheit abgeknapst worden ist. Und wir alle haben es nicht kapiert.

Wäre der gesellschaftliche Widerstand gegen die Impfpflicht bei Masern nicht so beschämend schwach gewesen, ja, hätten da die vielen eigentlich Freiheitsliebenden unter den Impfbefürwortern nicht die wenigen verzweifelt gegen den Zwang kämpfenden Impfgegner im Stich gelassen, dann würden sich die Politiker jetzt gar nicht trauen, die völlig irrsinnige Impfpflicht bei Covid durchzuprügeln.

Der Utilitarismus hatte damals nur einen weiteren kleinen Sieg auf dem Weg zum Totalitarismus errungen. Aber er hatte fast kampflos gewonnen. Es war keine Katastrophe, sondern nur eine Vor-Katastrophe. Schon da hatte jedoch die Evidenz keine Rolle mehr gespielt. Und verfassungsrechtliche Prinzipien schon gar nicht. Auch da war die Verdinglichung von Menschen für die Zwecke Dritter schon das verborgene Hauptprogramm. Und wenn die Würde des Menschen im Kleinen antastbar ist, warum es dann nicht auch eine Stufe größer versuchen, dachten und denken sich die Pöstchen- und Pensiönchenbesitzer in den Parteizentralen. Der Freiheitswille der Bürger war gewogen und für zu leicht befunden worden.

Und jetzt haben wir den Salat.

Karl-Hermann Flach hatte mit vielem recht. Insbesondere damit, dass die „herrschenden Kreise“, die „etablierten Führungsgruppen“ das Verderben bringen, egal, welche Parteifarben und welche Ideologien sie vor sich hertragen. Aber unrecht hatte er darin, dass eine Partei einen „mittleren“ gesellschaftlichen Weg finden könnte, der uns vor dem totalen Machthunger der Herrschenden bewahrt, ob sie nun demokratisch gewählt worden sind oder nicht. Der Liberalismus mag uns einst von den Monarchien befreit haben, von der Herrschaft hat er uns nicht befreit. Der Zweck war der richtige, die Mittel waren die falschen.

Parteien sind eben das Problem, nicht die Lösung.


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