26. Januar 2022
Wüst und leer: Die Rache der Geimpften
Warum es keine Freiheit der Gesellschaft gibt
von Oliver Gorus
Als Unternehmer ist es gerade gar nicht so einfach. Mir geht’s jedenfalls so: Zu den verrückt hohen Steuern und Abgaben, der krassen Geldentwertung, den verunsicherten Kunden, den vielen Mitarbeitern, die gerade in Quarantäne geschickt werden, weil sie etwa einen Bekannten mit Schnupfen getroffen haben, kommen nun auch immer mehr Krankmeldungen hinzu. Und zwar Krankmeldungen von Mitarbeitern in den Tagen nach ihrer dritten Impfung, technophil „Booster“ genannt, übersetzt: „Hilfsrakete“. Nicht nur, dass auch diese Rakete auf Dauer keine Hilfe ist, sie ist außerdem zusammen mit all den anderen sogenannten „Maßnahmen“ eine herbe Belastung für Unternehmen. Jedenfalls schränken all diese Verordnungen, die erlassen worden sind, ohne dass jemand wirklich Maß genommen hätte, nach wie vor nicht nur Individuen, sondern auch Unternehmen unverhältnismäßig in ihrer Freiheit ein. Dachte ich am Wochenende.
Moment! Ist es Ihnen aufgefallen?
Mein Denkfehler ist mir selbst erst am Montag ins Auge gesprungen. Geholfen hat mir dabei das Nachdenken über den wüsten sonntäglichen Talkshow-Auftritt des Hendrik Wüst bei Anne Will, von dem ich mangels eigenem TV-Gerät erst einen Tag später durch die florierenden Diskussionen darüber auf Twitter erfahren hatte. Also, eins nach dem anderen …
Das liebevolle Kümmern
Will: „Was ist Sinn und Zweck Ihrer Impfpflicht?“
Wüst: „Sinn und Zweck ist, dass wir den Menschen signalisieren können, die alles getan haben die letzten zweieinhalb Jahre, die sich haben impfen lassen, die vorsichtig waren, die sich testen lassen, die Masken tragen: Jetzt sind die anderen dran, die sich bisher geweigert haben! Damit wir alle gemeinsam wieder ein Stück mehr Normalität kriegen. Stück für Stück. Das ist ein Zeichen an die Geimpften, dass jetzt mal diejenigen dran sind, die sich bisher geweigert haben. Das ist das, was uns, glaube ich, alle eint, dass wir inzwischen ein verdammt schlechtes Gewissen haben müssen gegenüber denjenigen, die alles getan haben: einmal geimpft, zweimal geimpft, geboostert, die immer noch vorsichtig sind, aus Rücksichtnahme auf die Nichtgeimpften. Und jetzt müssen wir uns bitte mal liebevoll um die Nichtgeimpften kümmern. Nach Lage der Dinge geht das nur mit der Impfpflicht. Noch mal. Es geht darum, auch mal den Geimpften und denen, die alles machen, zu zeigen: Wir lassen das nicht weiter zu, dass Menschen ihre individuelle Freiheit über die Freiheit der gesamten Gesellschaft stellen! Jetzt kümmern wir uns um die Nichtgeimpften und führen eine Impfpflicht ein.“
Diese spaltenden Sätze schmetterte der Nachfolger der freundlich-jovialen Tante Laschet aus NRW in der Talkshow den nicht anwesenden nicht geimpften Vogelfreien um die Ohren, zum Wohlgefallen der gesamten Gesellschaft der braven Geimpften in der Runde und an den angeschlossenen Zwangsfunkapparaten.
Es sind nur Worte eines Provinzpolitikers, der mal auf nationalem TV-Parkett auftreten darf und dort sofort seine Überforderung offenbart, aber sie bringen für mich so vieles auf den Punkt: Sie skizzieren die geistig-moralische Misere der Parteiendemokratie. Sie verorten vorerst den intellektuellen Tiefpunkt der Corona-Krise. Vor allem aber entlarven sie die wahren Motive des gemeinen Feld-, Wald- und Wiesenpopulisten im Staatsamt.
Die Impfpflicht soll nämlich offensichtlich nicht aus medizinischen Gründen eingeführt werden (was ja auch allein schon angesichts eines fehlenden sterilen Impfstoffs sowie angesichts des schnell mutierenden Virus keinen Sinn ergäbe), sondern aus Rache der Geimpften an den Ungeimpften. Doch. Allen Ernstes.
Schon der freidemokratische Mitverräter Wolfgang Kubicki, der am 10. Dezember ja im Bundestag für die Versuchsballon-Impfpflicht für Gesundheits- und Pflegepersonal gestimmt hatte, nannte die von den meisten Politikern herbeigesehnte allgemeine Impfpflicht bereits die „Rache der Geimpften“. Im Interview mit der „Zeit“ sagte er am 18. Dezember: „Ich bin entsetzt über das jakobinerhafte Verhalten vieler in diesem Land, deren Freude an 2G und Impfpflicht ja nicht mehr rational ist.“
Und da hatte er wohl recht. Nur, wenn schon irrational, dann bitte genauer: Rache für was?
Jenseits von Eden
Der Zorn des Geimpften ist ähnlich dem des Kain, dessen Opfer von Gott verschmäht worden ist. Unter dem Boden des Bewusstseins scharrt, wuselt und kratzt die Angst des Corona-Kult-Gläubigen, die Angst vor der Krankheit, die Angst vor den Impfnebenwirkungen, die Angst, am Ende der Dumme zu sein, die Angst, hinters Licht geführt worden zu sein.
Und so klagt er an: Ach, Corona, du Schreckliche! Ich habe doch alles getan, was du von mir verlangt hast: einmal geimpft, zweimal geimpft, geboostert. Du hast mein Opfer gefordert, ich habe das Opfer gebracht. Und noch mal. Und noch mal. Öffentlich habe ich dein Zeichen in meinem Gesicht getragen! Und jetzt werde ich dennoch krank? Jetzt habe ich vielleicht sogar mein Immunsystem ruiniert? Und jetzt muss ich dennoch wieder testen? Und Maske tragen? Alles geht so weiter, obwohl ich alles gemacht habe? O, Corona, warum verschmähst du mein Opfer? Und warum hast du meinen verhassten Bruder, den Ungeimpften, den Ungehorsamen, den Ungläubigen nicht hinweggerafft? Warum lässt du ihn aufrecht stehen? Warum verhöhnst du mich? Warum lässt du ihn recht behalten?
Eine Richtung, einen Adressaten braucht die Wut. So wie Kain aus Neid die Hand erhob gegen seinen Bruder, so richtet sich nun der Zorn des Gehorsamen gegen den Ungehorsamen: Jetzt soll der andere mal dran sein! Er will einen Schaden für den Ungeimpften, damit der nur ja nicht besser wegkommt als er. Er verlangt „ausgleichende Gerechtigkeit“. Und in einer Demokratie wie der unseren ist für „Ausgleich und Gerechtigkeit“ nicht die eigene Faust, sondern der gewählte Herrscher mit Gewaltmonopol zuständig: der kleine Mann mit zu viel Macht.
Der ins Unbewusste verdrängte Schmerz des Gehorsamen, beim Gehorchen einen Teil seines Selbst aufgegeben zu haben, wird im Akt der delegierten Gewaltanwendung gestillt: Der Herrscher soll nun den freien Willen des Ungehorsamen brechen und ihn neben den Gehorsamen auf die Knie zwingen!
Ein Herrscher, egal, ob ins Amt gewählt, geboren oder gekämpft, kann sich nur halten, wenn es genügend Leute unter seiner Knute gibt, die regiert werden wollen. Die Freiheitlichen, die lieber unregiert leben wollen, sind ihm ein entzündlicher Stachel im Fleisch. Der natürliche Feind des Politikers ist somit der Libertäre. Mit jeder anderen Einstellung kommt er spielend zurecht. Die einen sind Freunde, die anderen Gegner, aber alle spielen mit. Nur dieser freiheitliche Spielverderber kehrt ihm den Rücken!
Wie gut kommt es dem Herrscher da zupass, dass die Regiertwerdenwollenden dem Freiheitlichen die Freiheit neiden, wie Kain dem Abel die Gunst Gottes neidete! Damit ist der Herrscher jederzeit durch die Mehrheit der Untertanen in der Bevölkerung legitimiert, denen, die sich zu frei und selbstbestimmt gerieren, eins überzubraten. Also zum Beispiel denen, die partout darauf bestehen, selbst zu entscheiden, ob sie eine Arznei nehmen oder nicht.
Niemand hat die Absicht, einen Zwang zu errichten …
Und dann addieren sich noch Hochmut, Hohn und Spott: Das Herrscherlein will sich jetzt „mal liebevoll um die Nichtgeimpften kümmern“ – liebevoll die Grundrechte auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit zertreten? Liebevoller Zwang? Kümmern? Was für ein Arroganzausbruch!
Und das alles auf dem Niveau einer Spielgruppe: „Jetzt sind mal die anderen dran!“ Das Drama der spätherbstlichen Bundesrepublik besteht außerdem darin, dass das parteipolitisch handverlesene Bundesverfassungsgericht dem Bürger keine Garantie mehr bietet, die Politiker hinter die roten Linien zurückzuverweisen, wenn es sich irgendwann einmal herablassen wird, über die Impfpflicht zu entscheiden. Selbstverständlich müsste eine Grundrechtseinschränkung erstens notwendig, zweitens geeignet und drittens angemessen sein, wenn es mit rechten Dingen zuginge. Und selbstverständlich würde die allgemeine Corona-Impfpflicht keinem der drei Kriterien genügen. Aber es geht hier nicht mit rechten, sondern mit linken Dingen zu, und ein Abendessen der Richter mit dem Kanzler genügt dann heutzutage vielleicht schon wieder.
Das inhaltlich bedenklichste Zitat des wüsten Talkshow-Auftritts des Rächers der Geimpften ist aber dieses: „Wir lassen das nicht weiter zu, dass Menschen ihre individuelle Freiheit über die Freiheit der gesamten Gesellschaft stellen!“
Darum hier noch mal klipp und klar: Es gibt keine „Freiheit der Gesellschaft“. Solche Gespensterkonstrukte sind immer Bestandteil totalitärer Ideologien. Im Leninismus, im Stalinismus, im Faschismus, im Nationalsozialismus, im Maoismus oder im DDR-Sozialismus wurde „Freiheit“ immer zu einem nationalen, vaterländischen, die Einheit des sozialistischen Staates oder der Partei beschwörenden kollektivistischen Kult umgedeutet. Wie das Genie George Orwell es so prophetisch erkannt hatte: Im kollektivistischen Staat ist Freiheit Sklaverei!
Wie zum Beweis besteht für Hendrik Wüst oder Karl Lauterbach heute die Freiheit der Ungeimpften darin, zur Freiwilligkeit gezwungen zu werden. Und im konkreten Zwang erfüllt sich dann diese ominöse abstrakte „Freiheit der Gesellschaft“.
Aber es ist nun mal so – und das ist auch der Denkfehler, den ich eingangs gebeichtet habe: Es gibt keine Freiheit eines wie auch immer gearteten Kollektivs! Eine Gruppe von Menschen kann nicht frei sein. Ein Unternehmen kann nicht frei sein, ein Verein kann nicht frei sein, ein Volk kann nicht frei sein, ein Land kann nicht frei sein, eine Gesellschaft kann nicht frei sein.
Nur die einzelnen Menschen selbst können frei sein. Freiheit ist immer individuelle Freiheit. Sonst heißt sie Knechtschaft.
Anzeigen
Kommentare
Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv Abonnenten der Zeitschrift „eigentümlich frei“ zur Verfügung.
Wenn Sie Abonnent sind und bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, nutzen Sie bitte das Registrierungsformular für Abonnenten.
Mit einem ef-Abonnement erhalten Sie zehn Mal im Jahr eine Zeitschrift (print und/oder elektronisch), die anders ist als andere. Dazu können Sie dann auch viele andere exklusive Inhalte lesen und kommentieren.