01. Dezember 2021

Psychologie der Massen Wer braucht einen Sündenbock?

Warum Ungeimpfte nun an allem schuld sind

von Oliver Gorus

Dossierbild

mittwochs um 6 Uhr

Jens Spahn, der Vertriebsleiter von Biontech (oder hatte er doch einen anderen Posten …?) schlug am vergangenen Wochenende folgende „Ansage“ vor: „Stellt euch darauf ein, 2G, geimpft oder genesen, und zwar auffrischgeimpft dann ab einem Punkt x, gilt mindestens mal das ganze Jahr 2022. Wenn du irgendwie mehr tun willst als dein Rathaus oder deinen Supermarkt besuchen, dann musst du geimpft sein!“

Ein ganzes Jahr lang Nichtanwender eines bestimmten Pharmaprodukts vom gesellschaftlichen Leben ausschließen? – Mein erster Gedanke: Hat der nicht mehr alle Tassen im Schrank?

Und was fällt dem ein, mich zu duzen? Glaubt er, zu Kindern zu reden? Glaubt er, erziehungsberechtigt zu sein?

Aber der Herr Spahn ging noch weiter: „Wir sehen ja alle, was los ist in diesem Land, weil elf Millionen Erwachsene sich haben noch nicht überzeugen lassen. Und darunter leiden jetzt alle.“

Diese dümmliche Behauptung ist so hanebüchen, plump, offen feindselig, hetzerisch und gefährlich, dass mir da durchaus mal eine Frage durch den Kopf geschossen ist, die mir bei Pharmavertretern oder Politikern nicht so häufig durch den Kopf schießt. Nämlich: Warum macht der das?

Und auf den zweiten Blick ist die Rhetorik so geschickt und ausgetüftelt, dass diese Brandstiftersätze nicht so einfach dahergesagt oder rausgerutscht erscheinen. Was also hat der Herr Spahn sich dabei gedacht?

Scapegoating

Vorweg: Wer einigermaßen auf dem Laufenden ist, der weiß, dass auch Geimpfte das Coronavirus weitergeben können, laut Studien aus Großbritannien sogar mit der gleichen Viruslast wie Ungeimpfte. Das veranlasste sogar den Hofvirologen der Bundesregierung, Christian Drosten, darauf hinzuweisen, dass auch die Geimpften zum Infektionsgeschehen beitragen. Die offiziellen Zahlen des RKI belegen das ebenfalls.

Selbstverständlich weiß der Herr Spahn das. Also lügt er ganz bewusst. Wozu? – Na, das ist einfach: Die Lage im Gesundheitssystem im Spätherbst 2021 ist desolat. Keine einzige der Maßnahmen der Pandemiebekämpfung in den letzten 21 Monaten hat so funktioniert wie versprochen. Stattdessen gibt es auf den Intensivstationen etwa gleich viele Corona-Fälle wie letztes Jahr, nur jetzt mit mehreren Tausend Betten und Pflegern weniger. – Wer trägt dafür die Verantwortung? Der Herr Spahn.

Also liegt die Motivation, die Schuld einer gesellschaftlichen Gruppe wahrheitswidrig in die Schuhe zu schieben, auf der Hand: Keiner geht auf ihn los. Alle gehen auf die Ungeimpften los.

Außerdem wirkt die Fokussierung ungerichteter Aggressionen auf eine Minderheit identitätsstiftend für die Mehrheit.

Das ist unmittelbar verständlich, auch wenn es ethisch natürlich inakzeptabel ist.

Nur: Wie macht der das, dass er damit durchkommt?

Die Psychologie der Massen

Ich vermute: Der Herr Spahn hat seinen LeBon gelesen. Der französische Wissenschaftler Gustave LeBon veröffentlichte 1895 das Buch „Psychologie des foules“ und begründete damit die Massenpsychologie.

Das Werk ist so faszinierend wie beängstigend, denn man kann damit die merkwürdigen, sprunghaften, einfältigen, brutalen Verhaltensweisen der Massen tatsächlich verstehen, man kann es aber auch wie ein Handbuch zur Beeinflussung der Massen lesen. Vermutlich haben genau das nicht nur die führenden National- und Internationalsozialisten des 20. Jahrhunderts getan, sondern auch viele Politiker der Gegenwart.

LeBon schrieb: „Die reine, einfache Behauptung ohne Begründung und jeden Beweis ist ein sicheres Mittel, um der Massenseele eine Idee einzuflößen.“

Es kommt nur darauf an, die richtigen sprachlichen Register zu ziehen, um die Idee ansteckend zu machen.

Und so spricht der Herr Spahn die Masse gleich direkt an: „Stellt euch darauf ein …“

Außerdem spricht er dabei mit seiner einfachen Sprache und mit dem Duzen direkt das kindliche Wesen der Masse an.

Er spricht in Kollektiven: „Wir sehen ja alle …“ – das sind wir, die guten Kinder. Aber die „elf Millionen Erwachsenen“, das sind die Bösen, vor denen die Kinder Angst haben sollen.

Er spricht bildhaft und erzählerisch konkret: „Wenn du irgendwie mehr tun willst als dein Rathaus oder deinen Supermarkt besuchen …“

Er bringt sogar einen kurzen und unmissverständlichen Befehl unter: „… musst du geimpft sein!“

Er installiert en passant mit „weil“ einen einzigen einfachen Kausalzusammenhang, obwohl der gar nicht existiert.

Und natürlich evoziert er einfache Emotionen: „Und darunter leiden jetzt alle …“ – wie ungerecht! Muss das nicht bestraft werden?

Mit genau einer solchen schlichten wie effektiven Sprache haben in den letzten totalitären Staaten finstere Demagogen ihr Volk gegen einzelne Bevölkerungsgruppen gezielt aufgehetzt und zu den verrücktesten Taten motiviert.

Hätten wir ahnen können, dass so etwas heute ausgerechnet in Deutschland wieder möglich ist? – Klar! Wir Freiheitsliebenden warnen seit Jahren davor!


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