12. Oktober 2025
Filmemacher Wes Anderson: Mit roten Mützen gegen die grauen Tage
Mein Dankeschön an einen unvergleichlichen Geschichtenerzähler

Kennen Sie graue Tage? Nein, ich meine nicht die Tage, an denen man mal blaumacht. Und auch nicht die roten Tage, die mahnend im Kalender stehen und einen ja daran erinnern, nicht zur Arbeit zu gehen. Auch keine schwarzen Tage, die von einem Desaster oder der eigenen Depression dominiert werden. Nein – ich meine „die grauen Tage“. Jedenfalls nenne ich sie so.
Diese Tage, an denen das Licht diffus erscheint. An denen alles in einem grauen Schleier verschwimmt. Diese Tage, an denen man schon beim Aufstehen alt und müde ist. An denen Freude wie eine ferne Erinnerung wirkt. An denen Menschen zu einer gleichförmigen Masse verschwimmen. Und das Niederschmetternde daran ist die Erkenntnis, dass man selbst Teil dieser organischen Gleichschaltung ist.
Graue Tage sind schlimm. Jedenfalls für mich. Sie schmecken nach fader Suppe. Riechen nach künstlichem Duftauffrischer. Fühlen sich an wie billiger Polyester. Und doch – jedes Mal werden sie kurz durchbrochen. Selbst am farblosesten aller Tage gibt es diesen einen Moment, in dem mir ein saftiger grüner Rasen auffällt. Oder der Geschmack von Schokolade intensiver ist. Oder der Geruch von Flieder blumiger als sonst zu mir dringt.
Diese kurzen Inseln von Sinneseindrücken in der Abgestumpftheit hinterlassen ein ganz bestimmtes Gefühl. Ich kann es nicht mit einem Wort benennen. Wäre es ein Kuchenrezept, würde ich es wohl mit 100 Gramm klebrigem Kitsch und 80 Gramm süßer Freude angeben. Dazu kämen drei treibende Verbundenheitsanteile mit dem großen Ganzen (man könnte auch das große G-Wort – nein, nicht Geschlechtsverkehr, sondern Gott – verwenden), 500 Gramm wesentliche Nostalgie und eine Prise Bitterkeit.
Und genau dieses Gefühl überkommt mich, wenn ich einen Film von Wes Anderson sehe.
Ich möchte in den folgenden Zeilen für mich erörtern, warum das so ist. Wie schafft es die Ästhetik von Wes Anderson, mich für ein paar Stunden gefangen zu nehmen? Und was lösen seine Filme eigentlich genau in mir aus?
Nun muss ich zugeben, dass ich kein besonderer Filmenthusiast bin – weder im handwerklichen noch im historischen Sinne. Ich mag Filme, weil sie eine Art des Geschichtenerzählens sind. Und ich liebe Geschichten. Ich mag Filme, weil sie Bilder erschaffen, die schön sind. Und ich liebe Schönheit. Aber ich bin zu dumm, um viel über technische Aspekte von Kameraeinstellungen zu philosophieren. Zu oberflächlich, um jedes Detail eines Filmsets analysieren zu können. Und zu unbedarft, um schauspielerische Leistung wirklich zu verstehen. Deswegen erwarten Sie bitte keine technisch einwandfreie Analyse – sondern eine persönliche Reflexion über Schönheit und Geschichten.
Nun, was macht Wes Anderson so besonders? Für mich ist der Grund, dass er den Film als künstlerisches – nein, als artifizielles – Medium begreift. Er macht unmissverständlich klar: Was wir sehen, ist ein bewusst gestaltetes Kunstwerk. Geschaffen durch ihn – den Künstler, den Kompositeur, den Puppenspieler.
Was ich damit meine? Wohl jeder, der einen Wes-Anderson-Film gesehen hat, merkt sofort: Diese Welten sind nicht echt. Sie wirken wie ein Theaterstück. Oder wie eine Geschichte, die jemand erzählt. Nichts daran lehnt sich an den Naturalismus oder die sogenannte Realität an. Da gibt es Vorhänge zwischen den Szenen (in „Rushmore“). Oder Erzähler, wie in „The Grand Budapest Hotel“ oder „Moonrise Kingdom“. Oder gleich Filme im Film, wie in „The Life Aquatic with Steve Zissou“. Oder Konstruktionen, in denen die Prämisse des gesamten Films darin besteht, dass die Geschichte von einem der Charaktere aufgeschrieben wurde – siehe „The Darjeeling Limited“.
Wir befinden uns in einer artifiziellen Umgebung, in einem bewusst entworfenen Universum. Das unterscheidet den Filmemacher Wes Anderson fundamental von beispielsweise Christopher Nolan, der einen Film über Träume macht – und dabei hyperrealistische Szenen einsetzt. Sie wirken so real, dass wir irgendwann nicht mehr wissen, ob wir uns im Traum oder in der Wirklichkeit befinden. Großartig gemacht, keine Frage. Aber bei Wes Anderson würde uns das nie passieren. Wir wissen, dass wir in einer Geschichte sind. Dass er uns eine Unwirklichkeit zeigt. Und dadurch wird er als Künstler hyperpräsent. Vielleicht sogar zur eigentlichen Hauptfigur des Ganzen.
Und vielleicht berührt uns das deshalb so sehr. Weil es uns an unsere ersten Begegnungen mit Geschichten erinnert. Damals, als sie uns noch erzählt wurden. Von jemandem. Großeltern. Eltern. Geschwistern. Wir haben sie nicht gesehen, wir haben sie gehört. Und wir wussten: Das ist nicht real.
Waren diese Geschichten deshalb weniger bewegend? Nein. Denn wir Menschen besitzen diese wundervolle Fähigkeit: Empathie. Jedenfalls die meisten von uns – Autisten, Psychopathen, Soziopathen mal ausgenommen. Und Politiker sowieso. Wobei die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass Politiker zu einer der drei Gruppen gehören.
Aber zurück zu uns normalen, empathischen Menschen. Wir fühlen mit, auch wenn wir nicht persönlich betroffen sind. Wir weinen, wenn Tiere gequält werden. Wir haben Angst, obwohl wir sicher zu Hause sitzen. Wir zucken zusammen, wenn jemand anderer Schmerz empfindet. Und wir tun das – selbst wenn wir wissen, dass es nicht real ist. Wenn das nicht so wäre, ergäbe es keinen Sinn, einen Film zu schauen. Einen Roman zu lesen. Ein Theaterstück zu besuchen. Ein Gemälde zu betrachten. Ein Computerspiel zu daddeln. Deswegen wirkt Wes Anderson. Trotz seines artifiziellen Stils. Oder besser gesagt: gerade deshalb.
Nun, wie schafft Wes Anderson diesen so typischen Stil? Das erste Wort, das einem in den Sinn kommt, ist: Komposition. Wie ein Maler – oder besser: wie ein bildender Künstler im surrealistischen Geist – konstruiert er seine Szenen. Er entwirft sie nicht einfach, er formt sie. Jede Einstellung wirkt wie ein Tableau. Ein zentrales Mittel dabei: Symmetrie. Die Pietà im Petersdom von Michelangelo. „Die Schule von Athen“ von Raffael. Oder die Szene in „Moonrise Kingdom“, als die jugendliche Heldin auf dem Leuchtturm steht und ins Fernglas blickt. Was all dies miteinander verbindet, ist ein perfekt symmetrischer Aufbau. Angenehm fürs menschliche Auge. Wir lieben Symmetrie, wir suchen sie unbewusst überall – fast jeder ist von schief hängenden Bildern irritiert. Symmetrie ist dabei nicht nur ein optisches Bonbon, sondern ein bewusst eingesetztes Stilmittel, um uns in diese künstlich komponierte, beinahe traumhafte Welt hineinzuführen.
Dazu kommt: die bewusste Verwendung von Farben. Diese übernehmen in Andersons Filmen nicht bloß dekorative Aufgaben – sie erzählen mit. Da wird bei der Beerdigung eines unbekannten kleinen Jungen weiß getragen – und im nächsten Schnitt, bei der Beerdigung des Vaters, schwarz. Und doch: Die Trauer in Weiß wirkt intensiver, reiner, dramatischer.
Ein anderes Beispiel: Ein zutiefst traumatisierter Vater trägt während des gesamten Films einen knallroten Trainingsanzug – ein visuelles Symbol für seine Kindlichkeit. Doch am Ende, zur Beerdigung seines eigenen Vaters, erscheint er im schwarzen Anzug. Ein farbliches Signal: „Hey – hier hat eine Entwicklung stattgefunden.“ Farben dienen bei Anderson auch zur Charakterisierung seiner Figuren: Lila, getragen von Gustave H. in „The Grand Budapest Hotel“ – extravagant, exzentrisch, zugleich königlich und künstlich. Die roten Mützen der Schiffscrew in „The Life Aquatic with Steve Zissou“ – ein kollektives Signal für das Kindlich-Naive, das diese Männer verbindet. Komplementärfarben wie Türkis und Orange, Violett und Gelb – sie ziehen uns weiter hinein in diese surreale, fast märchenhafte Anderswelt.
Als letztes, für mich wesentliches, bildliches Stilmittel sei der flache Hintergrund erwähnt. Was ich damit meine? Denken wir noch einmal an „Inception“ von Christopher Nolan. Es gibt dort eine Szene in einem Hotel, in der zwei Männer gegeneinander kämpfen. Da dies in einer Traumsituation geschieht, wirken die Gesetze der Schwerkraft nicht – die Kämpfenden wirbeln durch den Raum, die Kamera folgt ihnen, rotiert mit ihnen, umrundet sie. Der Hintergrund wird dabei zum Vordergrund. Alles ist in Bewegung. Und so surreal die Szene auch ist – sie wirkt real.
Ganz anders bei Wes Anderson: In „The Grand Budapest Hotel“ gibt es eine Szene, in der ein Mann eine Frau durch einen Hotelflur verfolgt. Die Kamera zeigt nur zwei Einstellungen: einmal den Verfolger von vorn – frontal ins Bild laufend. Und einmal seinen Blickwinkel auf die Fliehende – ebenfalls strikt frontal. Die Figuren bewegen sich nur in einer Linie. Der Hintergrund bleibt Hintergrund. Er ist flach, unbewegt, gemalt – wie eine Theaterkulisse. Und obwohl diese Szene rein inhaltlich weit realistischer ist als ein Kampf in der Schwerelosigkeit, wirkt sie weitaus surrealer. Gerade weil sie sich nicht darum bemüht, Realität zu imitieren. Sie zeigt: Das hier ist keine Welt, die wir betreten – es ist ein Bild, das wir betrachten dürfen.
Wes Anderson führt uns mit seinen Filmen in Traumwelten. Er bietet uns surrealistische Phantasien. Er lässt uns ein Märchen betreten – inszeniert, komponiert, voller seltsamer Schönheit.
Doch wozu das Ganze? Wes Anderson ist tief vom Surrealismus beeinflusst. Seine Bildsprache ist durchdrungen von Symbolen, die nicht den Verstand, sondern das Unterbewusstsein ansprechen. Er versetzt Objekte in ungewohnte Kontexte. Er befreit seine Figuren von den Zwängen der Logik. Es geht ihm nicht darum, realistische Geschichten zu erzählen – sondern darum, in uns etwas zu berühren, das unter der Oberfläche liegt.
Seine Szenen sollen nicht neu erscheinen, sondern vertraut. Wie eine melancholische Erinnerung. Vielleicht aus einem Traum. Vielleicht aus einer alten Erzählung. Vielleicht aus einem Gefühl, das wir längst vergessen glaubten. Und genau in dieser Atmosphäre der Nostalgie begegnen wir Emotionen, die tief in uns vergraben waren. Und erleben dadurch einen Moment der Katharsis.
Denn warum träumen wir eigentlich jede Nacht stundenlang? Wenn nicht, um all das zu verarbeiten: Gefühle. Erinnerungen. Sinneseindrücke. Und scheinbar sind wir Menschen so irrationale Wesen, dass wir den Ausbruch in die Surrealität brauchen, um die Realität überhaupt aushalten zu können. Ein kurzer Wahnsinn – damit wir geistig gesund bleiben. Die Grauheit des Alltags – damit wir die Farbtupfer des Lebens überhaupt wahrnehmen.
In diesem Sinne: Danke, Wes Anderson! Für die roten Mützen, die lila Hotelflure, die traurigen Helden in roten Trainingsanzügen. Für die Ordnung im Chaos. Für die Geschichten, die man nicht glauben muss – aber fühlen kann.
Information
Diesen Artikel finden Sie gedruckt zusammen mit vielen exklusiv nur dort publizierten Beiträgen in der am 20. September erscheinenden Oktober-Ausgabe eigentümlich frei Nr. 256.
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