16. November 2024

Bürokratie Krebsgeschwür im gesellschaftlichen Organismus

Warum wir uns ganz anders organisieren sollten

von Wolfram Mittelhäußer

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Bildquelle: Thomas Bethge / Shutterstock Bürokratie: Krebsgeschwür im gesellschaftlichen Organismus

In ef 245 hatte ich die Philosophie des Japaners Taiichi Ohno vorgestellt, des Erfinders des legendären Toyota-Produktionssystems. Die Tatsache, dass Toyota bis heute als die Benchmark für hohe Mitarbeiterwertschöpfung in der Automobilindustrie steht, ist aber auch dem Wirken von Kikuo Suzumura – einer von Taiichi Ohnos wichtigsten Mitstreitern – zu verdanken. 

In all unserem wirtschaftlichen Handeln finden wir Handlungen, die Nutzen stiften, und andere, die eher kontraproduktiv sind. Gemein ist jeder Einzelhandlung, egal, ob sie eher nutzt oder sogar schadet, dass sie Kosten verursacht. Betrachten wir eine Einzelhandlung genau, werden wir erkennen, dass auch diese wieder aus wenig nutzenstiftenden und vielen überhaupt keinen Nutzen stiftenden (Einzel-) Handlungen oder Bewegungen besteht. 

Je weiter man ins Detail geht, desto mehr erkannten Ohno und Suzumura, dass man – wenn man es richtig macht – mit ganz wenig Aufwand großen Nutzen stiften kann. Aus diesem abstrakten Gedanken entwickelte sich ein Paradigma, nämlich „Etwas tun, ohne es zu tun“, wie: „Suchen, ohne zu suchen“, „Planen, ohne zu planen“, „Instand halten, ohne instand zu halten“, „Bestellen, ohne zu bestellen“, „Zählen, ohne zu zählen“.

Wie ist das zu verstehen? Zum Beispiel „Suchen, ohne zu suchen“ müsste korrekt „Finden, ohne zu suchen“ heißen. Wir suchen nicht mehr, weil wir unser Arbeitsumfeld so ordentlich gestalten, dass nie wieder etwas gesucht wird. Daraus spaltete sich eine eigene Toyota-Philosophie von Ordnung und Sauberkeit ab, die heute „5S“ genannt wird.

Etwas tun, ohne es zu tun, meint das Eliminieren von Tätigkeit, ohne den nutzenstiftenden Teil einzubüßen. Wenn wir beim Beispiel „Suchen, ohne zu suchen“ bleiben, hieße das am Montageband: Alle Werkzeuge (Betriebsmittel), die ein Mitarbeiter für seine rhythmisch wiederkehrende Arbeit benötigt, muss er blind greifen können. Die Werkzeuge sind so präzise, leicht greif-, zurücklegbar und intuitiv zu positionieren, dass sie blind ergriffen und zurückgelegt werden. Der Mitarbeiter hat beim ersten Griff das jeweilige Werkzeug richtig in der Hand und muss seine Konzentration nicht auf das Werkzeug lenken, sondern verbleibt voll im Gedanken an seine Tätigkeit. Die Königsdisziplin ist dann noch, es so zu gestalten, dass sich das jeweilige Werkzeug nur durch Loslassen von alleine (autonom und automatisch) zurücklegt. Gelingt das, habe ich die Wertschöpfung des Mitarbeiters verdoppelt, alleine durch das Eliminieren der Verschwendung. Seine Fehler werden dabei auch noch fast vollständig eliminiert, da er immer das geeignete Werkzeug richtig in der Hand hält und sich voll auf seine Arbeit frei von Ablenkung  konzentriert. 

Das Paradigma „Tun, ohne etwas zu tun“ brachte die Tätigkeit „Finden“ auf ein völlig neues Level, nämlich Finden, ohne den Kopf drehen zu müssen oder das Augenmerk abzulenken. Der nutzenstiftende Teil der Tätigkeit ist weder das Suchen noch das Finden, sondern nur die Verrichtung, die das Betriebsmittel (Werkzeug) am Werkstück leistet, die sogenannte Wertschöpfung, zum Beispiel das Anziehen einer Schraube oder Fügen eines Einzelteils. Dieser Gedanke ist bei ausführenden Tätigkeiten, wie dieses Beispiel zeigt, einfach zu verstehen und auch umzusetzen. Bei indirekten Tätigkeiten wie zum Beispiel „Produktion planen“ fällt es schon deutlich schwerer, diese Philosophie auf die entsprechenden Tätigkeiten anzuwenden und die damit verbundenen Verbesserungen am Arbeitsplatz durch konkrete Maßnahmen umzusetzen. 

Da aber beim indirekten Handeln (Arbeit in der Bürowelt) viel mehr Geld verbrannt wird, wäre es gerade dort umso wichtiger, Entsprechendes zu tun. 

Die hier nur kurz vorgestellten Gedanken gingen als fester Bestandteil in eines der beiden Leitkonzepte des Toyota-Produktionssystems ein, und dieses nennt sich „Jidooka“. Das japanische Wort „Jidooka“ hat übersetzt zwei Bedeutungen, nämlich „Autonomatisierung“ (autonom machen) und „Automatisierung“ (mitarbeiterfrei machen), und Jidooka strebt nach beidem, und zwar in folgender Priorität:

Erstens: Mache systematisch alle Dinge autonom (Routinisierung)!

Zweitens: Nachdem du etwas autonom gemacht hast, kann es sein, dass es sinnvoll ist, es auch noch zu automatisieren (mirtarbeiterfrei machen durch Rationalisierung)! 

Dinge autonom zu machen ist für eine kluge Betriebs- und auch Amtsführung sehr entscheidend, viel entscheidender als das Automatisieren. Auf eine simple Formel gebracht, verlangen „autonom machen“ Vertrauen in die Mannschaft und das Automatisieren Kapital. Gegenwärtig ist offensichtlich leichter, Kapital zu beschaffen als vertrauenswürdiges Personal. Obendrein sitzen im Management häufig Kontroll-Freaks, also wird meist der Weg der Automatisierung und Überwachung gegangen anstelle jenes der Vertrauensbildung und des Autonommachens. 

Generell gilt: Je größer die Organisation, desto stärker der Hang zur Automation statt zum Autonommachen (Routinisierung). Routinisierung kostet im Gegensatz zum Automatisieren fast nichts und erhält dem Unternehmen beziehungsweise der Organisation eine hohe Flexibilität. Automatisierung hingegen macht ein Unternehmen hochgradig unflexibel und degradiert es langfristig zum Anlagenbetreiber, der nicht einmal mehr gute neue Produkte entwickelt. Meist gibt es auch individuelle Gründe dafür, dass hochautomatisierte Unternehmen immer mehr an Innovationsfähigkeit verlieren und Automatisierung sich allzu häufig als Verliererstrategie herausstellt. Drei allgemeine Gründe aber, warum Automatisierung viel problematischer ist, als viele annehmen, seien hier genannt:

Erstens: Die klügsten Köpfe und Ingenieure sind in einem hochautomatisierten Unternehmen vollauf damit beschäftigt, den tollen Maschinenpark am Laufen zu halten, auf den man so stolz ist. Diejenigen, die neue Produkte entwickeln sollen und könnten, werden von den Maschinen in Beschlag genommen und stehen daher zur Produktneuentwicklung kaum mehr zu Verfügung.

Zweitens: Die neu entwickelten Produkte möchte man natürlich ebenfalls auf den automatisierten Anlagen produzieren. Das beschneidet die Freiheitsgrade in der Neuentwicklung.

Drittens und am wichtigsten: Von Automatisierung getriebene Unternehmen sind irgendwann auf ihre Maschinen stolzer als auf ihre Produkte und verkennen dabei, was ihr wichtigstes Kapital ist. Nicht die Maschine ist das wahre Kapital eines guten Unternehmens, sondern der Mensch. Ganz besonders ist es der Mensch, auf den wir den geringsten Einfluss haben, nämlich der wiederkehrende Kunde.

Immer, wenn eine überflüssige Tätigkeit „organisiert“ wird, sollten die Alarmglocken schrillen. Ohno nannte das „Verschwendung“. Meister dieser Verschwendung sind staatliche Organisationen. Diese exekutieren heute unendlich viel Verschwendung durch Gesetze und per Bürokratie par ordre du mufti. Unser gegenwärtiger Alltag ist voll von bürokratischen Schikanen. Geschätzte 80 Prozent unseres täglichen Tuns dienen dem Füttern des Monsters, und dieses lässt es sich in den Amtsstuben wohl ergehen, derweil es sich komplett aus Verschwendung speist. Das Monster ist unersättlich und wird immer noch größer und gefräßiger. Dieses Monster entspricht in Ohnos Gedanken („Wie funktioniert der Mensch?“) exakt den Krebszellen. 

Sie sind so überflüssig wie der sprichwörtliche Kropf und zerstören den gesamten Organismus. Nur sie selbst, die staatlich verordnete Bürokratie, unterliegt nicht dem natürlichen Sterbensprozess. Jedes noch so gut geführte Unternehmen geht irgendwann pleite, aber das Finanzamt – dessen einziger Sinn und Zweck es ist, fleißigen Menschen die Ernte ihres Schaffens wegzunehmen, ohne dabei irgendetwas Sinnvolles zu leisten – besteht ewig. 

Wenn man durch die strenge Brille Ohnos blickt, kann man zu keinem anderen Schluss kommen als: Diese Form der staatlichen Zwangsverwaltung und Einmischung mit dem daran hängenden Beamtenapparat ist der Krebs in der Organisation des Zusammenlebens.

Information

Diesen Artikel finden Sie gedruckt zusammen mit vielen exklusiv nur dort publizierten Beiträgen in der am 18. Oktober erschienenen November-Ausgabe eigentümlich frei Nr. 247.


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