04. Januar 2020
Udo Lindenberg und Co: Staatserschaffene Kulturschaffende
Wo sind die oppositionellen Künstler hin, wo sind sie geblieben?
von Oliver Gorus
Egal, was die anderen labern
Sie haben die Sache mit Udo Lindenberg, Stephan Brandner und dem Judaslohn ja mitbekommen. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ist ein Bundestagsausschussvorsitzender abgewählt worden. Und zwar, weil er mehrfach kontroverse Meinungen geäußert hatte.
Wie auch immer man zu seinen Äußerungen steht, der Vorgang ist einerseits bemerkenswert – zumal man ja darüber streiten kann, ob er der opferrollengestählten AfD nun
schadet oder nützt –, aber andererseits ist dieses ewige Hickhack im Bundestag mittlerweile auch langweilig geworden.
Interessanter ist aus meiner Sicht die andere Seite: die Seite Udo Lindenbergs, seines Zeichens Rockmusiker, Schriftsteller und Maler, ein waschechter Künstler und einer der prominenten Vertreter der Kaste der Kulturschaffenden in Deutschland.
Ich geh euren Weg…
Es gibt da vieles, was Udo Lindenberg als Persönlichkeit des öffentlichen Lebens sympathisch macht: In den 70er Jahren war er einer der ersten Rockmusiker, der deutsche Texte sang. Er war mit seinen selbstgeschriebenen Songs über einen langen Zeitraum erfolgreich und verkaufte viele Platten. Aber erst mit 62 Jahren schaffte er es zum ersten Mal an die Spitze der Charts. In den 80er Jahren versuchte er die innerdeutsche Grenze mit Songs, Charme und Gitarre zu überwinden, indem er den kommunistischen Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker bezirzte, ja ihm sogar medienwirksam eine Lederjacke und eine E-Gitarre schenkte und davon sang, dass Erich tief innendrin ja eigentlich auch ein Rocker sei.
Udo Lindenberg ist eine verschrobene, unkonventionelle Kunstfigur, die in der Breite der Bevölkerung erstaunlich beliebt ist. Und er ist bei allem demonstrativen Individualismus zweifellos ein engagierter Bürger. Er bekennt sich zur Sozialdemokratie, engagierte sich gegen Hunger in Afrika und gegen „rechte Gewalt“, gründete eine Stiftung, erhielt zig Preise und sogar ein Denkmal in seiner Geburtsstadt Gronau. Alles in allem: Lindenberg ist eine lebende Legende, und da ist die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes nachvollziehbar.
In einem seiner bekanntesten Songs nuschelt er auf seine typische Art: „Ich geh meinen Weg, ob gerade, ob schräg, das ist egal. Ich mach mein Ding, egal, was die anderen labern.“ So, und da möchte ich mal einhaken: Würde Udo Lindenberg auch sein Ding machen, egal, was die anderen labern, wenn er seinen Weg nicht entlang des Mainstreams der Meinungen gehen würde, wie schon sein ganzes Leben lang, sondern auch mal dagegen?
Wer das Ding macht, das alle machen, und labert, was alle labern, kann jederzeit dicke Backen machen. Den kurzen Clash mit dem Außenseiterpolitiker hat Lindenberg ja genau deshalb durch technischen K.O. gewonnen, weil das komplette Establishment hinter ihm versammelt war. Und ey, Udo, ist der Stephan tief innendrin nicht eigentlich auch ein Rocker? Oder war dir der Kommunist Erich dann doch wirklich näher?
Also: Wäre es auch noch cool für Lindenberg, wenn er sich mit seiner Brachialrhetorik für oder gegen etwas in Politik und Gesellschaft einsetzen würde, womit er sich dem Gegenwind aussetzte? Wenn er den Kanzler samt Partei, die „Tagesthemen“ und das „heute-journal“ inklusive der krallenbewehrten Kommentare von Restle, Reschke, Kleber und Co, die Talkshows mit Will, Plasberg, Maischberger, Illner, Lanz, die Blätter von „taz“, „FAZ“ und „Bild“ über „Süddeutsche“ bis „Spiegel“, die Buchmesse-Intelligenzija und last but not least mehr als die Hälfte seines Publikums gegen sich hätte?
Wir wissen es nicht. Weil ja alles, wofür oder wogegen Udo Lindenberg ist, genau das ist, wofür oder wogegen jeder gute Mensch in den Zeiten der Berliner Republik ist. So unkonventionell und schrullig er sich ästhetisch gibt, so konventionell und zu 100 Prozent konsensfähig ist er inhaltlich.
Ich frage mal: Ist nun dieser in seinen Meinungen und Standpunkten so angepasste Künstler, der sich gleichzeitig eine so unangepasste Attitüde zugelegt hat, ist dieser sympathisch stromlinienförmige Rebellendarsteller der typische Kulturschaffende unserer Zeit in Deutschland?
Und weiter: Wo sind denn die echten oppositionellen Kritiker unter den Künstlern? Warum sind die so leise, dass man sie nicht hört? Warum ist die Kultursparte in unserer Öffentlichkeit so auf Linie? Werden sie auf Linie gebracht? Und wenn ja, wie denn überhaupt?
Also: Wo sind die oppositionellen Künstler hin, die gegen den Strom schwimmenden Autoren, die eigensinnigen Popstars, die kantigen Schauspieler, die kritischen Musiker, die unbequemen Influencer, die ätzenden Kabarettisten? Wo sind sie geblieben?
Ich sehe und höre nur Campino, Til Schweiger, Herbert Grönemeyer, Jan Böhmermann, Rezo und so weiter – und die sagen alle das Gleiche, nämlich das, was die Glotze und die großkoalitionäre Sozialdemokratie aller Farben zu den Fragen unserer Zeit sagen.
Und ja, der Zwangsrundfunk mit dem gesetzlich definierten Programmauftrag beschäftigt auch einen Dieter Nuhr, der mit meisterhaft gezielten Provokationen gegen den Meinungs-Mainstream auffällt. Mal nimmt er den sakrosankten Islam auf die Hörner, mal die heilige Greta. Das bringt ihm jeweils einen Shitstorm in den Blättern und in den Sozialen Medien ein, und das bedeutet: Aufmerksamkeit, Quote und Follower. Aber beobachten Sie das mal: Bei der nächsten Sendung wird er betonen, dass er linksgrün sozialisiert wurde, und dann schießt er ganz sicher gut berechnet in die andere Richtung, zum Beispiel gegen die AfD, um zu signalisieren: Ich bin noch immer einer von den Guten! Das ist alles wohldosiert und glänzend kalkuliert. Dieter Nuhr markiert so den Rand des gerade noch Geduldeten. Und das sogar witzig. Ein Oppositioneller ist er aber gerade nicht, sondern ein weiterer Künstler am Hofe des Juste Milieu, mit seinem Anteil an den eingetriebenen Zwangsgebühren.
Also: Warum bricht da keiner wirklich aus?
Der Preis der Freiheit
Naja, die einfache Antwort ist: Künstler sind eben von Natur aus eher links, sozialistisch und kollektivistisch. Und wenn das Establishment und der Mainstream gerade links, sozialistisch und kollektivistisch sind, dann sind die Kunstschaffenden eben auch Establishment und Mainstream. Wäre das politische Klima konservativ, marktliberal und freiheitlich, dann wären die Künstlertruppen oppositionell.
Aber auch dann: Sind Künstler nicht auch eigensinnig? Was ist mit den wenigstens zehn Prozent Selberdenkern? Dem Zehntel, das freiheitlich und individualistisch eingestellt ist – wo sind sie?
Kein Frank Zappa hierzulande, kein John Cleese, kein Clint Eastwood, kein James Woods, kein Morrissey. Nicht einmal mehr ein Loriot oder wenigstens ein verrücktes Kind wie Klaus Kinski, dem zwar die Politik am Allerwertesten vorbeiging, der aber – show, don‘t tell – mit seinen unangepassten Eskapaden wie ein Eisbrecher geistige Freiheitsräume freigeschoben hatte.
Und selbst wenn wir annehmen, dass Künstler mit größerer Tendenz ein gewisses Sendungsbewusstsein haben, also eine Weltsicht, mit der sie durch ihre Werke am liebsten alle Menschen beschenken möchten – wie Politiker auch –, müsste es dennoch wenigstens einige freiheitliche Stimmen unter ihnen geben, die in der gegenwärtig engen, piefig-miefigen, linksspießigen Gesellschaft aufmucken.
Murray Rothbard beantwortete diese Frage in Bezug auf die „Intellektuellen“ so: „Ein Intellektueller ist die Art von Mensch, die glaubt, dass sie in der freien Marktwirtschaft deutlich weniger Einkommen erhält, als ihr aufgrund ihres intellektuellen Genies zusteht. Der Staat, auf der anderen Seite, ist willens, ihnen ein großzügiges Einkommen zu gewähren, damit sie sich als Apologeten der Staatsmacht betätigen und die Unzahl der vom modernen Staat geschaffenen Stellen im Wohlfahrts- und Regulierungsapparat füllen.“
Nun ist analog sicher nicht zu verallgemeinern, dass alle Künstler ihr Einkommen direkt vom Staat beziehen. Das trifft lediglich auf manche staatsgeförderten Kulturbereiche zu, wo sich die fehlenden oppositionellen Stimmen somit durch knapp zehn Milliarden Euro Kulturförderung selbst erklären – wer beißt schon die Hand, die ihn ernährt? Aber die anderen? Zumindest liefert das Zitat eine heiße Spur: Follow the money!
Es gibt, durch eine bestimmte Brille betrachtet, zwei Arten von Menschen: Die einen sind Publikum, die anderen haben Publikum. Selbstverständlich sind die im weitesten Sinne Kulturschaffenden Teil der zweiten Gruppe. Sie leben sogar davon, Publikum zu haben.
Und das junge Phänomen der Sozialen Medien hat diese Gruppe sogar noch einmal enorm erweitert und demokratisiert: Heute kann jeder zu dieser Gruppe gehören, indem er auf Facebook, Instagram, Twitter und Co nicht nur vor sich hin stoffwechselt, Herzchen an Katzenbildchen hängt und ansonsten den Content-Strom konsumiert, sondern aktiv mitmacht. Wer anfängt, seine kleinen Werke zu posten, schafft sich früher oder später ein Publikum aus Friends und Followern und wird damit Teil der Kreativen, die Publikum haben, statt nur Publikum zu sein.
Ob diese Kulturschaffenden nun zu denen gehören, die von ihren Werken leben oder nicht: In jedem Fall leben sie von ihrem Ruf und können es sich nicht leisten, als Nazi abgestempelt zu werden. Denn das hätte genauso wie bei Autoren, Schauspielern, Musikern, Kabarettisten oder Malern, die in einem freien Kulturmarkt von ihrem zahlenden Publikum leben, verheerende, ihre wirtschaftliche Existenz bedrohende Folgen.
Aus libertärer Sicht ist das erst mal auch völlig in Ordnung: Aus dem gleichen Grund, aus dem keiner gezwungen werden kann, jeden zu frisieren, zu bedienen oder zu beliefern, hat auch im Feld der Kultur jeder das Recht, einen Künstler aufgrund seiner Ansichten blöd zu finden und nichts mehr von ihm kaufen zu wollen. Freiheit und Verantwortung sind zwei Seiten einer Medaille. Wer sich mit seiner Meinung Feinde macht, muss auch die Konsequenzen tragen, und das ist eben manchmal eine Kündigung.
Das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass sich in jüngerer Zeit etwas verändert hat: Es gibt einen gesellschaftlichen Klimawandel.
Ich berate und unterstütze mit meinen Unternehmen etliche Menschen, die ein Publikum haben. Da sind bekanntere und weniger bekannte Persönlichkeiten dabei. Sie alle wollen auf eine Weise mit ihrer Öffentlichkeit kommunizieren, die ihren Marktwert und ihre Bekanntheit erhöht. Nicht gefährdet! Im gegenwärtigen gesellschaftlichen Klima da draußen müssen wir ihnen nun aber immer deutlicher raten: Wenn das, was sie zu sagen haben, Politik und Gesellschaft inhaltlich berührt – dann Vorsicht! Seine Meinung zu sagen, kann immer dann, wenn sie interessant wird, nämlich dann, wenn sie vom Mainstream abweicht, zunehmend schwerwiegende materielle Konsequenzen haben.
Und hier liegt der Hase im Pfeffer. Ich habe das über die letzten 20 Jahre intensiv, allein schon aus beruflichen Gründen, verfolgt, und meine Erfahrung ist: Der Korridor des ungefährdet Sagbaren ist mindestens in den letzten zehn Jahren immer enger geworden. Oder anders gesagt: Man muss immer besser aufpassen, was man sagt.
Und wenn das stimmt, beantwortet das die Frage, wohin die oppositionellen Kulturschaffenden verschwunden sind: Sie sind da, sie halten aber einfach lieber die Klappe.
Die logische Folgefrage ist: Wie funktioniert denn dann dieser Meinungskorridor, wenn er überhaupt existiert? Also: Auf welche Weise werden die Künstler mundtot gemacht?
Wirkungstreffer
Wie es oft so ist: Eines der berüchtigsten Mao-Worte hat der Große Vorsitzende vermutlich nie selbst gesagt, es wurde ihm nur zugeschrieben: „Bestrafe einen, erziehe Tausende!“
Es gibt im letzten Jahrzehnt einige prominente und viele weniger prominente Fälle, wo meinungsstarke Leute ihre Meinung zwar innerhalb des Spektrums der Meinungsfreiheit, also innerhalb des vom Strafgesetzbuch gesteckten Rahmens, geäußert haben, aber dennoch daraufhin ihren Job, ihren Verlag, ihren Lehrstuhl, ihr Publikum oder ihre Geschäftspartner verloren haben, jedenfalls Schwierigkeiten bekommen haben oder einfach nicht mehr wie zuvor ihren Job machen konnten – nur wegen einer vom Üblichen abweichenden Meinung. Diese Fälle werden von den Menschen beobachtet. Und sie wirken wie Exempel, die zur Erziehung aller an den einzelnen Sündern statuiert worden sind.
Das funktioniert durch die Social-Media-Zensur via Netzwerkdurchsetzungsgesetz auch bei den kleinen Kulturschaffenden. Wer einmal bei Facebook oder Twitter eine Sperre kassiert hat, weil er aus dem falschen Songtext oder die falschen Zahlen aus der Kriminalitätsstatistik zitiert hat, oder wer so eine Sperre auch nur beobachtet, überlegt sich sehr genau, was er künftig schreibt. Ich spreche da aus Erfahrung.
Ich könnte hier viele Fälle recherchieren und aufführen, aber es genügt, an ein paar Wirkungstreffer zu erinnern, um die Funktionsweise des Meinungskorridors zu illustrieren.
Einer der härtesten Treffer ist der Fall Sarrazin vor knapp zehn Jahren mit seinem relativ schwach geschriebenen Sachbuch, das aber diesen handwerklich brillant gemachten Titel hatte. Jeder erinnert sich daran, was damals passiert ist. Kaum einer hat sich mit den Thesen des Autors inhaltlich auseinandergesetzt, aber dafür wurde mit dem Autor das gemacht, was in den letzten zehn Jahren mit allen Abweichlern gemacht wurde.
Das läuft immer nach dem gleichen Muster ab: Der Mensch wird von autoritären Gouvernanten der öffentlichen Meinung persönlich angegriffen und abgewertet. Weil es hierzulande so gut funktioniert, wird er als „rechts“ und somit als schlechter Mensch markiert. Damit wird er auf eine eingeseifte Rutschbahn gesetzt. Wer darauf sitzt, rutscht unweigerlich in der öffentlichen Bewertung weiter ab und wird dann von den zahllosen willfährigen Dienern der Gouvernanten zum „Nazi“, zum „Demokratiefeind“, zum „Faschisten“, zum „Rassisten“ gestempelt und zum Beispiel als „Abfall“ oder wie im Falle Sarrazins als „lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur“ entmenschlicht. Es folgten zahllose Angriffe, auch im privaten Raum, das Parteiausschlussverfahren, und selbstverständlich kann Sarrazin nie wieder für ein öffentliches Amt kandidieren. So wird der Preis für die eigene Meinung enorm nach oben getrieben… Und alle, die mit dem Gedanken spielen, sich eine eigene Meinung zu leisten, beobachten das.
Der an der Auflage gemessene Erfolg des Buches allerdings – mehr als 1,5 Millionen Exemplare – zeigt, dass Sarrazin zwar eine Außenseiterposition im öffentlichen Raum, nicht aber im privaten Raum eingenommen hatte: Er sagte, was viele dachten. Das heißt nichts anderes, als dass es einen enormen Spalt zwischen dem öffentlich Sagbaren und dem im nichtöffentlichen Rahmen Gesagten, Gehörten und Diskutierten gibt. Die Größe dieser Diskrepanz verhält sich umgekehrt proportional zur effektiven Freiheit der Meinungsäußerung.
Die Gouvernanten
Ein weiterer Wirkungstreffer, den jeder Kulturschaffende vernommen hat, erwischte einen anderen Autor, nämlich Uwe Tellkamp, der 2008 den vielleicht wichtigsten DDR-Roman veröffentlicht hatte: den Bestseller „Der Turm“.
Ich selbst war in drei Jahrzehnten beruflich auf rund 20 Frankfurter Buchmessen, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass vor 2017 jemals irgendein Hahn nach den zahlreichen linksradikalen oder den wenigen rechtsradikalen Verlagen oder den vereinzelten islamistischen oder christlich-fundamentalistischen Verlagen gekräht hätte. Gerade die Buchmesse war in meiner Erinnerung immer ein Hort der Meinungsfreiheit und insofern einer der freiesten Orte der Welt, ein libertäres Mekka.
Aber nachdem der Börsenverein des Deutschen Buchhandels zur Buchmesse 2017 zur Gouvernante wurde, indem er den Antaios-Verlag öffentlich als „rechts“ markierte und zu Protestkundgebungen gegen ihn aufgerufen hatte, kam es zu Tumulten und Übergriffen eines Mobs. An verschiedenen Ständen wurden Bücher besudelt, Manuskripte gestohlen, es gab Sachbeschädigungen und Handgreiflichkeiten.
Tellkamp unterzeichnete nach diesem Vorfall gemeinsam mit prominenten Autoren und Publizisten die „Charta 2017“ der Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen. Darin hieß es unter anderem: „Die Vorkommnisse auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse machen deutlich, wie widersprüchlich es in unserem Land zugeht: wie unter dem Begriff der Toleranz Intoleranz gelebt, wie zum scheinbaren Schutz der Demokratie die Meinungsfreiheit ausgehöhlt wird.“
Der Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins, Alexander Skipis, wies im Deutschlandfunk die Vorwürfe mit aller Deutlichkeit zurück. Die gesamte Buchbranche lebe von der Meinungsfreiheit, die Meinungsfreiheit sei eines der höchsten Güter, ein Menschenrecht, für das er eintrete.
Der Börsenverein tat dies zum Beispiel dadurch, dass er die als „rechts“ markierten Verlage auf der Buchmesse 2019 in den hinterletzten Winkel der Buchmesse am Ende eines kargen Ganges von den Besucherströmen der eigentlichen Buchmesse abgetrennt verbannte – eine Art Pranger. So etwas hatte es auf der Buchmesse zuvor noch nie gegeben.
Dies ist ein entscheidendes Merkmal der Gouvernanten: Sie treten wie hier stets im Namen der Freiheit auf, bezeichnen sich gar als Hüter der Freiheit, während sie gleichzeitig die Freiheit ihrer Gegner durch Taten oder Unterlassungen einschränken. Diese Paradoxie lässt sich nur auflösen, wenn die Gegner abgewertet werden, zum Beispiel, indem behauptet wird, dass diese ja gerade Gegner der Freiheit seien, Gegner der FDGO, Gegner der Menschenwürde und so weiter, also schlechte Menschen. Dadurch wird es öffentlich legitim, sie zu ächten und so ihre Freiheit im Namen der Freiheit einzuschränken.
Tellkamp sagte in einem öffentlichen Streitgespräch mit seinem Autorenkollegen Durs Grünbein im Frühjahr 2018 in Dresden, in Deutschland existiere ein „Gesinnungskorridor zwischen gewünschter und geduldeter Meinung“. Seine Meinung sei „geduldet, erwünscht ist sie nicht“. Er wolle seine Meinung aber ohne Furcht sagen dürfen.
Er lieferte dann einen spektakulären Beweis seiner These. Als es in jenem Gespräch um die Migrationskrise ging, sagte er etwas klar Oppositionelles: „Die meisten fliehen nicht vor Krieg und Verfolgung, sondern kommen her, um in die Sozialsysteme einzuwandern. Über 95 Prozent!“
In einem wirklich freien Land gäbe es mit einer solchen Aussage eines renommierten Autors kein Problem. Man könnte seine „95 Prozent“ ja zum Beispiel sehr einfach widerlegen und ihm sachlich widersprechen. In einem Land mit einem verengten Meinungskorridor und damit eingeschränkter Freiheit twittert sein Verlag, kein geringerer als Suhrkamp, aber dann: „Aus gegebenem Anlass. Die Haltung, die in Äußerungen von Autoren des Hauses zum Ausdruck kommt, ist nicht mit der des Verlages zu verwechseln. #Tellkamp“
Damit hatte sich der Verlag zur Gouvernante gemacht. So eine Aussage ist eine bewusste, absichtliche Distanzierung. Das Abschieben des eigenen Autors aus dem Korridor der Guten. Es ist das Brandzeichen: Du bist keiner von uns! Keiner von den Guten! Du bist ein Rechter!
Wenn man wissen möchte, wie das kulturelle Deutschland auf Linie gebracht wird, hier war es zu studieren. Auch wenn der Verlag danach in den Sozialen Medien beschimpft wurde als „Stasi-Verlag“, als „willfährig apportierende Systemdackel“ oder als „widerliche Systemschleimbeutel“. Die Gouvernanten sind unangreifbar. Sie nutzen ihre Autorität, um zu sortieren. Wer etwas sagen darf. Was gesagt werden darf.
Wenn man weiß, dass der Suhrkamp-Verlag zwar eine linksliberale Ikone ist, ihm aber zugesprochen wird, das relativ freiheitliche Meinungsklima der alten Bonner Republik mitbestimmt zu haben, und er unter seinen Autoren mit Hermann Hesse, Walter Benjamin, Rudolf Borchardt, Peter Sloterdijk, Martin Walser, Peter Handke, Hans Magnus Enzensberger, Heiner Müller und eben auch Uwe Tellkamp und Durs Grünbein stets eine große ideologische Spannbreite hatte – dann könnten einem die Tränen kommen.
Die Gäste im Dresdner Kulturpalast applaudierten übrigens beiden Diskutanten. Interessanterweise freuten sie sich über den lebendigen Dialog.
Und Uwe Tellkamp? Der schweigt seither.
Information
Diesen Artikel finden Sie gedruckt zusammen mit vielen exklusiv dort publizierten Beiträgen in der Jan.-Feb.-Ausgabe eigentümlich frei Nr. 199.
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