Hilfe - die Libertären kommen!

 von André F. Lichtschlag

Der folgende Artikel wurde etwa zeitgleich im vermeintlich "rechten" konservativen Magazin "Criticón" (Ausgabe Nr. 165, Frühjahr 2000) und in der vermeintlich "linken" anarchistischen Zeitschrift "espero" (Ausgabe 23/24, April 2000) veröffentlicht:

Marxisten haben es schon immer geahnt: Kapitalismus und Anarchismus sind zwei Seiten der selben Medaille. Jetzt gibt es auch in Deutschland bekennende Anarchisten und Kapitalisten unter einem gemeinsamen Dach, dem des Libertarianism. Gleichzeitig treten - scheinbar um die Begriffsverwirrung komplett zu machen - diese libertären Anarcho-Kapitalisten auch noch unter dem alten Label Liberalismus auf.

Vielen Kollegen der gleichnamigen Pünktchenpartei dürften die neuen Verwandten allerdings Kopfschmerzen bereiten, denn die libertären Liberalen stehen der demokratischen Staatsform skeptisch bis feindlich gegenüber. Die Demokratie ist in ihren Augen das System des lynchenden Mobs, denn wenn die Mehrheit die Minderheit ermordet, dann erfährt dies durch das demokratische Prinzip keinerlei Beschränkung, sondern wird scheinbar gar gerechtfertigt. Die Libertären lehnen die demokratische Mitbestimmung ab und fordern - nicht mehr als - Selbstbestimmung.

Zu dieser also recht eigenwilligen Formation zählen hierzulande etwa die liberalen Theoretiker und Buchautoren Roland Baader, Stefan Blankertz, Hardy Bouillon oder Detmar Doering. Die junge radikalliberale Bewegung in Deutschland versteht sich dabei als Speerspitze eines Netzwerkes, gebildet aus den verschiedensten radikal-freiheitlichen Denkschulen und Wissenschaftsdisziplinen. Zu ihr gehören heute konkret die Chicagoer Schule (z.B. Nobelpreisträger Milton Friedman, David Friedman), die Österreichische Schule (z.B. Ludwig von Mises, Nobelpreisträger Friedrich A. von Hayek), die Public Choice- und Rational Choice -Schule (z.B. Nobelpreisträger Gordon Tullock, James Buchanan, Erich Weede), liberale Historiker und Politologen (z.B. Ralph Raico, Gerd Habermann) sowie Philosophen, Wissenschaftstheoretiker und Literaten (z.B. Ayn Rand, Gerard Radnitzky und Vargas Llosa).

Neben dem libertären Zentralorgan "eigentümlich frei" - einer seit zwei Jahren vierteljährlich mit dem Untertitel "Marktplatz für Liberalismus, Anarchismus und Kapitalismus" erscheinenden Zeitschrift -, immer zahlreicheren Buchveröffentlichungen sowie einigen Web -Pages reicht der deutsche Libertarianism heute ansatzweise hinein bis in Teile der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung (die inzwischen mehrere anarchistische - übrigens eindeutig verfassungsfeindliche - Bücher herausgegeben hat) oder in die Redaktionsstuben der FAZ (wo auf solche Literatur mithin schon einmal überschwenglich hingewiesen wird).

Die Libertären treten - klassisch "links" - ein für unbeschränkte Drogenfreigabe, für Legalisierung von Prostitution und Pornographie sowie für die Abschaffung staatlicher Zuwanderungsgrenzen. Gleichzeitig streiten sie - klassisch "rechts" - für Privatisierung der Schulen und Universitäten, für die Legalisierung des Waffenhandels und für den Verzicht auf staatliche Subventionen, Umverteilung und Sozial-"Versicherung". Neu ist dabei, dass eine gemeinsame Anschauung alle diese freiheitlichen Losungen gleichzeitig vertritt, sie gar alle gleichzeitig von einem grundlegenden Prinzip ableitet: Jeder Mensch gehört sich selbst - wodurch ihm alleine natürlich auch die Früchte seiner Arbeit gehören, die er wiederum ohne Einschränkung tauschen oder verkaufen darf. Bei jedem freiwilligen Handel gewinnen dann vermutlich beide Seiten, da dieser ohne diese Aussicht nicht stattfinden würde. Die Einschränkung jeglichen freiwilligen Handels wird daher als - auch unwirtschaftliches - Verbrechen verurteilt.

In der Interaktion zwischen Menschen gibt es letztlich nur zwei mögliche Mittel: freiwillige Übereinkunft und Tausch oder erzwungene Gewalt und Raub - Handschlag hier, Genickschlag dort. Wer einmal versucht, Steuerzahlungen zu verweigern, der wird sehr schnell erfahren, welchen Weg der Staat bei der Wahl der Mittel letztlich immer geht. Die Libertären haben sich für den freiwilligen Tausch als dem ehrenwerteren und ökonomisch effizienteren Mittel entschieden.

Wie konnte es dazu kommen? Auf welche Traditionen berufen sich die eigentümlich freien Libertären?

Bereits im 19. Jahrhundert wurde innerhalb des liberalen Ansatzes erstmals der Staat radikal in Frage gestellt: In Europa ging der belgische Ökonom Gustave de Molinari am weitesten und vertrat ein System der privaten Sicherheitsproduktion. Die amerikanischen (Individual) -Anarchisten Lysander Spooner und Benjamin Tucker (welcher übrigens stark vom deutschen Philosophen Max Stirner beeinflusst war) stritten dann noch vor der letzten Jahrhundertwende erstmals für ein privates Rechtssystem. Daneben hatte z.B. auch schon der amerikanische Gründervater Thomas Jefferson theoretische Grundlagen geschaffen, auf denen schließlich in den 60er und 70er Jahren dieses Jahrhunderts in den USA eine radikale Ideologie entworfen wurde, die dem Staat vollends ablehnend und feindlich gegenübersteht: die Wirtschaftsverfassung des Kapitalismus verbunden mit der Rechtsverfassung des Anarchismus, der libertäre Anarcho-Kapitalismus.

Eine anarcho-kapitalistische Bewegung mit einer breiten kulturellen Verwurzelung war aufgrund ihrer Geschichte zunächst nur in den USA denkbar. Die Staatsgründung Amerikas wurde von vielen Gründervätern mit dezidiert freiheitlichen Zielen verfolgt. Der amerikanische Staat sollte ein Minimalstaat, eine Art Anti-Staat sein, der seine Bürger und ihr Eigentum lediglich vor der Gewalt anderer schützt. Noch heute würden die allermeisten Amerikaner den Satz "Jeder Mensch ist seines Glückes Schmied" uneingeschränkt unterschreiben. Inzwischen bekennen sich in den USA viele der bekanntesten Science Fiction -Autoren wie L. Neil Smith oder Robert A. Heinlein zum Anarcho-Kapitalismus und selbst die Hollywood-Schauspieler Clint Eastwood und Kurt Russel haben sich als Libertäre geoutet.

Die zwei bekanntesten und wichtigsten Begründer des modernen Anarcho-Kapitalismus sind die beiden Amerikaner Murray N. Rothbard ("Mr. Libertarian") als Schüler von Ludwig von Mises und David D. Friedman (momentan in den Bestsellerlisten der Wirtschaftsliteratur mit seinem aktuellen Buch "Der ökonomische Code" vertreten) als Sohn von Milton Friedman. Der Anarcho-Kapitalismus wird durch sie unterschiedlich begründet und verteidigt, naturrechtlich-objektivistisch von Murray Rothbard (der das unumstößliche Recht auf Eigentum streng rationalistisch herleitet) und utilitaristisch-subjektivistisch von David Friedman (der beschreibt, warum in einer freiheitlichen Ordnung Menschen vermutlich besser gestellt sind). Beide lehr(t)en dabei gleichzeitig als Ökonomen und als Juristen an verschiedenen amerikanischen Universitäten. Beide beziehen sich grundlegend auf den klassischen Liberalismus wie auf den klassischen (Individual-) Anarchismus, wobei sie beides weiterentwickeln: Der Rest an Staatsgläubigkeit des Liberalismus wird ebenso verworfen wie der Rest an Klassengläubigkeit des Anarchismus und beider Vorbehalte in der Bodenfrage sowie die längst von der österreichischen Ökonomie widerlegte Arbeitswertlehre.

Ebenso wie die durch Friedman und Rothbard präzisierte Theorie, so ist auch die moderne Bewegung des Anarcho-Kapitalismus aus zwei verschiedenen, ja gegensätzlichen Richtungen entstanden: als ein Zusammenschluss von Vertretern der radikalen Neuen Linken mit Vertretern der radikalen Neuen Rechten.

Die Neuen Rechten und insbesondere die Parteijugend innerhalb der Republikanischen Partei hatten 1964 begeistert den marktradikalen Barry Goldwater als Präsidentschaftskandidaten unterstützt - und mit ihm verloren. Mehr und mehr Gruppen an den Universitäten radikalisierten sich in den Folgejahren, inspiriert durch die Schriften von Ludwig von Mises und Ayn Rand. Die rechte Campus-Organisation Young Americans for Freedom (YAF) radikalisierte sich im Laufe der Jahre so sehr, dass schließlich die libertäre Fraktion 1969 auf einer legendären Bundeskonferenz auszog und ihrerseits den Zusammenschluss mit der studentischen Neuen Linken suchte. Die Konservativen riefen ihnen hinterher: "Schlagt die Linken, schlagt die Linken", und sie riefen zurück: "Schlagt den Staat, schlagt den Staat". Der geneigte deutsche Leser stelle sich einmal vergleichbare Vorgänge auf einer Bundesversammlung der Jungen Union vor.

Tatsächlich verband die z.B. von Paul Goodman beeinflusste, zumeist studentische, antiautoritäre Linke und die prokapitalistische Rechte inzwischen mehr als sie trennte; von der Gegnerschaft gegen die Wehrpflicht und den Militäreinsatz in Vietnam bis hin zur Drogenlegalisierung. Aus dem Zusammenschluss am Rande der besagten YAF-Versammlung mit einigen linken Gruppierungen und anderen Anarchisten entstand noch im selben Jahr die Society for Individual Liberty, die erste nicht mehr rechts oder links verortete anarcho-kapitalistische Organisation.

1971 gründete sich in den USA die auch heute noch überwiegend anarcho-kapitalistische Libertarian Party, die bei der Präsidentschaftswahl 1980 mit dem Spitzenkandidaten Ed Clark und etwa einer Millionen Stimmen ihren bisher größten Erfolg errang. Seither ist sie die drittgrößte Partei Amerikas, obwohl danach ein solches Wahlergebnis bundesweit nicht mehr erreicht werden konnte. Die Partei ist auf lokaler Ebene heute möglicherweise besser vertreten als die F.D.P. in Deutschland und stellt immer wieder auch Abgeordnete in Landesparlamenten der US-Bundesstaaten. Sie ist heute Teil eines großen Netzwerkes von zahlreichen libertären, oft radikalen anarcho-kapitalistischen Think Tanks, Instituten, Stiftungen, Buchhandlungen und Verlagen, wie z.B. das CATO Institute, die Future of Freedom Foundation, die International Society for Individual Liberty, Laissez Faire Books oder Free-Market.com. Viele Libertäre lehnen dabei in Opposition zur LP die Parteiarbeit aus grundsätzlichen Erwägungen ab.

Wer auf Gewalt durch den Monopolisten Staat oder durch eine kleinere kriminelle Diebesbande setzt, der hat jetzt auch in Deutschland mit einer argumentativen Gegenwehr zu rechnen, die sich auf Klassiker des Anarchismus und des Liberalismus ebenso stützt wie auf gleichzeitig wirtschaftstheoretische und rechtlich-moralische Untermauerung.

Der wissenschaftliche Marxismus hat wie seine kollektivistischen, mystischen und populistischen Brüder und Stiefbrüder Sozialismus und Nationalismus Millionen von Menschen in Tod und Verderben gestürzt. Der streng rationalistische und individualistische Gegner steht - wie von ihm selbst vorhergesagt - jetzt auch in Deutschland bereit.

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