29. Juni 2022

Zwei Aufhebungen Der friedliche Weg der Scheidung

Der einzige Weg, wie der Abtreibungsstreit gelöst werden könnte

von Oliver Gorus

Dossierbild

mittwochs um 6 Uhr

In der vergangenen Woche gab es zwei wegweisende Entscheidungen zu Abtreibungen. Während die eine in Deutschland auf die Unlösbarkeit des zugrunde liegenden Konfliktes hinweist, könnte die andere in den USA auf einen Lösungsweg auf einer anderen Ebene hindeuten, was sie so interessant für unseren gesamten westlichen Kulturkreis macht.

Worum geht’s konkret? – Da ist zum einen die mit breiter Mehrheit gefällte Entscheidung des Deutschen Bundestags, das im Strafgesetzbuch im Paragraph 219a in dieser Form seit 1974 normierte Werbeverbot für Lebensabbrüche von Ungeborenen abzuschaffen. Zum anderen gibt es die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA, das seit 1973 bestehende landesweite Verbot, die Tötung Ungeborener zu verbieten („Roe versus Wade“), aufzuheben.

Beide Entscheidungen zeigen, dass der Burgfriede zwischen Abtreibungsgegnern und Abtreibungsfreunden, der in den 1970er Jahren im kulturellen Westen ausgehandelt worden ist, nicht hält. Die ganze Sache war niemals entschieden, sondern nur aufgeschoben. Im kulturellen Krieg zwischen Kollektivisten und Individualisten gab es auf diesem Schlachtfeld lediglich einen Waffenstillstand. Und der gerät nun ins Rutschen – weder die eine noch die andere Seite kann mit dem einst ausgehandelten Kompromiss leben.

Die Regelungen zur Tötung von ungeborenen Kindern sind deshalb ein so bedeutender und erbittert umkämpfter Schauplatz des Kulturkriegs, weil die darin vertretenen Positionen unmittelbar auf die Grundwerte beider Gruppen weisen und weil diese Grundwerte eben unvereinbar sind.

Absolut gegensätzlich

Für die Gruppe der Kollektivisten sind Grund- und Menschenrechte nur eine Machtfrage: Der Mächtigere beziehungsweise das herrschende Kollektiv bestimmt über alle Regeln, auch über Leben und Tod. Das heißt in diesem Fall, dass das Selbstbestimmungsrecht der Mutter das Recht auf Leben ihres Kindes übertrumpft, weil die Mutter die tonangebende, den „Diskurs“ beherrschende und demokratische Mehrheiten bildende Gruppe hinter sich weiß. Grundrechte sind für sie eben auch nur weitere verhandelbare Regeln, die die Herrschenden nach ihrem Gusto errichten oder abreißen (wie ja auch die Corona-Maßnahmenkrise sehr anschaulich demonstriert hat). Demokratie ohne Minderheitenschutz durch Grundrechte ist aber nichts anderes als eine Tyrannei der Mehrheit. Die Tyrannei der Mehrheit entscheidet in diesem Fall, dass der Opferstatus der Frau höher bewertet wird als der Opferstatus des Ungeborenen (das sich ja nun wirklich nicht selbst verteidigen kann), was Letzterem effektiv das Leben kostet.

Für die andere Gruppe, die der Individualisten, sind Grund- und Menschenrechte individuell und unverhandelbar. Auf Grundlage der Aufklärung und der Lehren aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gilt: Das Kollektiv darf niemals über dem Individuum stehen! Das heißt in diesem Fall, dass das Recht auf Leben für alle Individuen gilt, also für ein Kind im Mutterleib genauso wie für geborene Frauen und Männer. Die Frauen haben keine Diskurshoheit über das Thema, weil Männer und Frauen ein gemeinsames Sorgerecht für die Kinder haben, die nicht für sich selbst sprechen können. Ja, Kinder haben auch Väter. Männer können aus der Entscheidung über Leben und Tod von Ungeborenen auch dann nicht ausgeschlossen werden, wenn die Frauen in der aktuellen Lage der Gesellschaft die Macht haben – weil Grundrechte keine Machtfrage sind, sondern eben per Definition unveräußerlich sind: Sie leiten sich aus dem naturrechtlichen, a priori gegebenen Selbsteigentum ab: Alle Menschen haben das Recht auf Leben. Immer. Niemand hat das Recht, einen anderen Menschen ums Leben zu bringen. Egal, wer die Macht hat. Punkt.

Diese beiden Positionen, die kollektivistische und die individualistische, sind im Kern ganz offensichtlich unvereinbar. Sie sind absolut gegensätzlich. Und darum kann es auch keine Kompromisse geben. Ein Grundrecht kann nicht gelten und gleichzeitig nicht gelten. Es kann nicht veräußerlich und gleichzeitig unveräußerlich sein. Ein Recht auf Leben kann nicht gleichzeitig absolut und untergeordnet sein. Das Kollektiv kann nicht gleichzeitig über und unter dem Individuum stehen.

Wenn es aber keine Kompromisse geben kann, wie soll dann der Krieg der Kulturen zwischen Kollektivisten und Individualisten geschlichtet oder entschieden werden? Läuft es wirklich auf einen echten Krieg, also einen Bürgerkrieg mit Hauen und Stechen, mit Mord und Totschlag hinaus? Oder gibt es doch noch irgendeinen Ausweg im Guten?

Die Entscheidung in Deutschland zeigt, dass der Streit nicht durch Streiten lösbar ist. Die Kollektivisten wollen mittels Salamitaktik die Tötung von Babys im Mutterleib auf Teufel komm raus legalisieren: „Wenn es nun legal ist, für ein Tötungsdelikt zu werben, dann kann es ja auch gar kein Tötungsdelikt sein, also kann das Töten doch keine Straftat sein, also muss das Töten doch erlaubt sein, oder?“ – Sie werden niemals lockerlassen und wenn es Jahrzehnte dauert. Ungeborene nicht entrechten und nicht töten zu dürfen, ist ein Makel im absoluten Machtanspruch der Kollektivisten – und die absolute Macht verfolgen sie unbarmherzig, koste es, was es wolle. Kollektivisten gehen für die totale Diktatur ihrer Partei, ihrer Klasse oder ihrer Rasse buchstäblich über Leichen, das 20. Jahrhundert sei mein Zeuge.

Die Entscheidung in den USA weist dagegen einen vielleicht gangbaren Weg …

Die große Teilung

Die Entscheidung des Supreme Court ist ein Schritt in eine gute Richtung, weil sie eine Entscheidung gegen Zentralismus ist: Es gibt demnach kein in der amerikanischen Verfassung verankertes Recht, ein Kind im Mutterleib zu töten, darum kann der Zentralstaat den Bundesländern diesbezüglich auch nichts vorschreiben. Das Oberste Gericht verweist die Regelung von Abtreibungen damit zurück in die Bundesstaaten. Und die sind Gott sei Dank noch sehr verschieden.

Im Ergebnis gibt es künftig US-Bundesstaaten, in denen das Recht auf Leben auch für Ungeborene gilt, sowie Bundesstaaten, in denen das Töten von Babys im Mutterleib Sache der Mutter und insofern grundsätzlich erlaubt ist.

Manche Bundesstaaten werden als Pro-Life States Abtreibungen generell verbieten, außer wenn das Leben der Mutter unmittelbar durch die Schwangerschaft bedroht ist. Manche Bundesstaaten werden weiter differenzieren, zum Beispiel nach der Schwangerschaftswoche, in der die Tötung vollzogen wird, nach der Art der Zeugung, womit Abtreibung nach einer Vergewaltigung erlaubt werden könnte, nach der körperlichen oder psychischen oder finanziellen Verfassung der Mutter und so weiter. Andere Bundesstaaten werden als Pro-Choice States die Tötung von Babys im Mutterleib bis zur Geburt generell erlauben und der Mutter die Herrschaft über Leben und Tod ihres Kindes zumuten.

Die Vielfalt der Regelungen hat den Vorteil, dass US-Amerikaner dann grundsätzlich die Freiheit der Wahl haben: Love it, change it or leave it! Das heißt, sie können die Regeln ihres Bundesstaats akzeptieren und gutheißen, sie können versuchen, sie zu beeinflussen und zu ändern, oder sie können die Kosten und Umstände eines Umzugs in einen anderen Bundesstaat auf sich nehmen, wenn ihnen das Thema wichtig genug ist.

Das gilt nicht nur für die Abtreibungsregeln, sondern zum Beispiel auch für die Höhe der Steuern, die Unternehmerfreundlichkeit, das Recht auf Waffenbesitz, die Bedingungen der Meinungsfreiheit und vieles mehr. Insgesamt bestärkt diese Entscheidung des Supreme Court die Ausdifferenzierung eines Flickenteppichs und den momentanen sezessionistischen Trend zur „großen Teilung“ beziehungsweise den Zerfall der USA.

Zwanglos glücklicher

Ergebnis des (konfliktreichen) Trennungsprozesses könnten mindestens zwei sehr unterschiedliche Gesellschaftssysteme sein.

Während der Teil der kollektivistischen „Liberals“, ähnlich wie die EU, in Richtung eines sozialistischen Zentralstaats und des Vorrangs des Kollektivs gegenüber dem Individuum strebt, könnte der andere Teil einen neuen „American Dream“ von Freiheit, Individualismus, Wohlstand und Fortschritt begründen.

Die Teilung in ein Land für Sozialisten und ein Land für Freiheitliche ist ein grundsätzliches Lösungsmuster, ein Modell auch für Deutschland und Europa, denn die beiden Grundeinstellungen zum Leben – die kollektivistische und die individualistische – sind nun mal unvereinbar, da beißt die Maus keinen Faden ab. Aber anstatt sich gegenseitig umzubringen, wenn sie gezwungen sind, miteinander zu leben, könnten sie sich doch trennen und versuchen, nebeneinander zu leben.

Das ist der friedliche Weg der Scheidung. Er bringt keinen Frieden untereinander, aber einen Frieden voneinander. Das ist auch der Grund, warum es sowohl Sozialisten als auch Individualisten in Deutschland während der Zeit der deutschen Teilung 1949 bis 1990 besser ging als heute: Sofern sie es geschafft hatten, im jeweils besser zu ihnen passenden Landesteil zu leben, war die Welt grundsätzlich in Ordnung.

Der durch die zwangsläufige Pleite der DDR erzwungene Fall der Mauer war ein Glücksfall, weil damit Freizügigkeit in beide Richtungen möglich wurde. Der darauffolgende Anschluss der DDR an die Bundesrepublik dagegen war ein langfristiger Fehler, denn seitdem versuchen die Kollektivisten wieder, die Herrschaft über das ganze deutsche Restgebiet zu erringen. Und dabei zerstören sie systematisch alle zivilisatorischen Errungenschaften, die die Bundesrepublik bis zur Wende zu einem vergleichsweise freiheitlichen Land gemacht hatten.

Sozialisten darf man meines Erachtens nicht zwingen, in Freiheit leben oder Zwang und Gewalt abschwören zu müssen. Sie halten ein gewaltfreies Zusammenleben, das Leistungsprinzip, die Gleichheit vor dem Gesetz und Herrschaftsfreiheit einfach nicht aus.

Und Freiheitliche darf man nicht zwingen, unter der Knute eines langfingrigen Staats zu leben, wo das Recht des Mächtigeren gilt, wo Zwang und Gewalt sowie das Leben auf Kosten anderer als normal gilt.

Darum: Unterschiedliche Systeme und die Chance zur Entmischung können ein Gewinn für alle sein. Anstatt zu versuchen, allen Menschen eine freiheitlichere respektive kollektivistischere Ordnung überzustülpen, sollten wir die Siedlungsgebiete aufteilen und Frieden voneinander suchen.

Den Kollektivisten sei gesagt: Tötet Babys, wenn ihr wollt! Herrscht mit Zwang und Gewalt, wenn ihr wollt! Errichtet euren totalitären Staat, wenn ihr wollt! Aber nicht bei uns. Macht das bei euch. Wir erheben Anspruch auf ein Gebiet, in dem es zivilisierter zugeht.


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