04. Mai 2022

Klebrig, eklig, scheinheilig Die Demokratisierung der Zensur

Wie die Gesellschaft sich selbst auf Linie hält

von Oliver Gorus

Dossierbild

mittwochs um 6 Uhr

Irgendwie war die Zensur zu Zeiten Heinrich Heines ehrlicher. Zwar war der Grund für die Einschränkung der Meinungsfreiheit durch die herrschenden Fürsten (früher Adelige, heute Politiker) damals genau der gleiche wie heute: nämlich die Angst vor den ihrer eigenen Macht gewahr werdenden Massen, also Revolutionsangst, zumindest die Angst, sein Pöstchen zu verlieren. Aber damals, im Deutschen Bund, wurde die Zensur wenigstens noch offen ausgeübt. Kein Mensch heuchelte, ein Liberaler hätte das gleiche Recht auf die Äußerung seiner Meinung wie ein Nachplapperer im offiziell fürstlichen Meinungskorridor. Keiner schrieb Grundrechte in eine Verfassung, nur um sie dann zu verhöhnen.

Ein Verbot war ein Verbot. Eine Zensurbehörde nannte sich seinem Zweck nach pfeilgerade „Zentralkommission zur Untersuchung hochverräterischer Umtriebe“. Wer die Willkür ausübte, zu bestimmen, was gesagt und geschrieben werden darf, war jedem klar, die Regeln lagen offen, und wenn nichts half, konnte man nach Paris fliehen.

„Wir wollen doch nur das Beste …“

Nach den Karlsbader Beschlüssen im Jahre 1819 mussten alle Schriften, die einen Umfang von weniger als 19 Oktavbögen umfassten, der Vorzensur vorgelegt, also noch vor Veröffentlichung der behördlichen Verstümmelung unterzogen werden.

„In den Zeitungen wurden die von den Zensoren beanstandeten Stellen durch Striche angedeutet. Ludwig Börne nannte sie Leichensteine“, schrieb Heine.

19 Bögen, das sind etwa 320 Buchseiten. Waren die Texte länger, konnten sie ohne Vorzensur veröffentlicht werden, mussten aber mit nachträglicher Kontrolle und Verbot rechnen. Die Zensoren verboten dann irgendwann auch das offensichtliche Durchstreichen von Passagen und die „Leichensteine“. Dadurch sollte die Zensur für die Leser unsichtbar und für Autoren und Verleger schön teuer werden, weil zensierte Werke dann neu gesetzt und gedruckt werden mussten. Auf diese Weise wurden missliebige Autoren offen in die Selbstzensur gezwungen. Brutale Machtausübung eben. Grausam, hart, tyrannisch, aber geradeaus.

Heute dagegen will jede Zensur orwellsch verneusprecht werden. Das ist eklig.

Und ich rede da nicht nur von den durch das klebrige Netzdurchsetzungsgesetz in den Hauptstrom gezwungenen sozialen Medien, wo ich selbst zigmal von unsichtbaren Zensurbrigaden gezwungen worden bin, Beiträge zu löschen, obwohl sie gegen kein Gesetz und keine Nutzungsbedingungen verstießen, sondern einfach nur entgegen dem Geschmack des herrschenden Zeitgeistes das Privateigentum ein bisschen zu sehr verteidigten oder den Sozialismus ein bisschen zu sehr angriffen.

Nein, das subtile Unwesen der Gedankenpolizei bohrt sich tiefer in die Gesellschaft. Beispielsweise: In meinen Jahrzehnten in der Buchbranche, als ich Buchhändler, Verlagsvertreter, Lektor, Autor, Ghostwriter, Autorenberater und Literaturagent war, habe ich gerade in den letzten beiden Jahrzehnten oft genug erlebt, wie Lektoren und Programmleiter von durchaus renommierten Verlagen Einfluss nehmen auf die veröffentlichte Meinung von Sachbuchautoren.

Das aber nicht mit offenem Visier, in Ausübung ihrer offensichtlichen Macht als Torwächter der Öffentlichkeit, sondern passiv-aggressiv moralisierend, weichgespült, schleimig, jovial und säuselnd menschenfreundlich, doch dabei im Grunde knallhart erpresserisch: Das Manuskript wird vertragswidrig einfach nicht angenommen, wenn es dem Lektor oder Programmleiter nicht passt!

Es sei denn … einige Ecken müssen eben leicht abgeschliffen werden, einige bislang fehlende Kernaussagen müssen eben hinzugefügt, einige Akzente müssen eben noch gesetzt, ein paar Passagen müssen bereinigt, ein paar inhaltliche Korrekturen hier und da gemacht werden, denn wir wollen doch nicht etwa, dass das Buch ein Flop wird, oder? Wir wollen doch nicht, dass der Verlagsvertrieb es nicht gerne verkauft, dass die Buchhändler sich dagegen entscheiden, das Buch ins Lager zu nehmen, das die Presse nicht wohlwollend rezensiert. Das wollen wir doch nicht, wir wollen alle doch nur, dass sich Ihr Buch gut verkauft, nicht wahr? Wir haben da doch die Erfahrung, verlassen Sie sich ruhig auf uns, streichen wir das einfach, schreiben wir stattdessen dies und jenes. Das ändert ja fast nichts an Ihrem Werk, oder? Wir stellen Ihnen auch gerne jemanden zur Seite, der das für Sie erledigt. Sie müssen das Manuskript dann nur noch freigeben, und dann nehmen wir es auch an und vermarkten es. Versprochen.

Mit anderen Worten: Schreiben Sie gefälligst, was wir für richtig halten, oder Ihr Buch ist tot.

Symptom des Abstiegs

Das Widerlichste daran ist das scheinbar überlegene arrogant-pädagogische „Wir“ in Verbindung mit dem drohenden Unterton. Die in Freundlichkeit verkleidete Unfreundlichkeit, die immer nur das Ziel verfolgt, den Autor vollends auf Linie zu bringen, während alle Gesprächsteilnehmer vorne herum das konstruktive Gespräch loben.

Ganz ähnlich passiv-aggressiv erfinden Buchhändler Lieferprobleme bei Kundenbestellungen, die ihnen nicht passen, lassen Bestsellerlistenersteller bestimmte Bücher unter den Tisch fallen, obwohl offiziell gar kein „Index“ existiert oder verbannen Buchmesseorganisatoren Verlage, deren Buchprogramme nicht auf der per „Tagesschau“ verkündeten offiziellen Wahrheitssuppe dahergeschwommen kommen, in das hinterste finsterste Eck der letzten Halle auf dem Gelände.

Und natürlich die Redaktionen …

Niemand hat diese Zensoren angewiesen, die Monokultur der Meinungen frei von Unkraut zu halten. Es gibt keine Verbote, kein Regelwerk, keine Zensurbehörde. Man kann nicht einmal von vorauseilendem Gehorsam reden, denn die Zensoren gehorchen nicht, nein, sie handeln aus freien Stücken konformistisch, aus glühender Überzeugung, damit der höheren Sache, der Moral, der Demokratie, der Menschheit zu dienen. Diese Zensur ist nicht zentral gesteuert, sondern metastasiert auf der Ebene der Zellen des gesellschaftlichen Organismus, sie ist autoaggressiv und wahrhaft demokratisch.

Jeder der kleinen Moralapostel versteht sich als Torwächter des kollektiven Glücks, jeder von ihnen ist in melodramatischer Mission für das höhere Gute unterwegs, jeder von ihnen genießt dabei die Endorphinausschüttungen der destruktiven Ausübung seiner kleinen Macht. Würden sie ihre Macht produktiv einsetzen, dann würden sie selbst etwas Eigenes, etwas anderes machen als alle anderen, dann würden sie selber denken und etwas Eigenes meinen, anstatt dafür zu sorgen, dass alle das Gleiche meinen, wie „man“ zu meinen hat.

So funktioniert das heute. Nicht die Mächtigen zensieren: Die bindungsgestörte und zutiefst verunsicherte antipluralistische Gesellschaft moralisiert sich stromlinienförmig, weil jeder Widerspruch als Angriff des Bösen auf das Gute empfunden wird.

Und wer ehrlich und aufrichtig Tacheles dagegenhält, nimmt dabei von vornherein in Kauf, der Böse zu sein. Der Sündenbock für alles, was schiefgeht.

Nur: Der zivilisatorische Abstieg, dessen Symptom die Demokratisierung der Zensur ist, kann nicht ewig so weitergehen. Er kehrt sich irgendwann um. „Everything woke turns to shit“ – alle Medien, ob Bücher, Zeitungen, Fernsehsendungen, Hollywoodfilme oder soziale Medien, werden umso unattraktiver, langweiliger, hohler, schaler, je weniger pluralistisch sie sind. Zensierte Medien verlieren Publikum. In stromlinienförmigen Zeiten erhöhten sozialen Anpassungsdrucks gewinnt das Harte, Schräge, Kantige, Ehrliche, Aufrechte Kontur und übt Anziehungskraft aus: Resonanz kraft Persönlichkeit.

Qualität setzt sich durch. Gerade jetzt.


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